Eröffnungsrede Claus Kuge
Matinee zur Stadtgeschichte
am Sonntag, 4. März 2007, 11.15 Uhr
“Sehen wir Pforzheim!”
Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in Pforzheim: Das Beispiel des “23.Februar 1945”
mit Dr. Christian Groh
Ich begrüße Sie herzlich, liebe Singer und Gäste, zur 1. Matinee unseres 507. Singerjahres.
Es ist eine programatische Matinee im Geist und im Selbstverständnis unserer Gesellschaft, deren
Herkunft und Wurzeln entscheidend und viel mit Erinnerungskultur zu tun hat.
Und nicht mit irgendeiner Erinnerungskultur, sondern mit der spezifischen, mit der lokalen
Erinnerungskultur in Pforzheim.
1501 und 1945 haben sehr viel mehr mit einander zu tun – als auf den oberflächlichen Blick
hin erkennbar.
1501, im Entstehungsjahr der „Löblichen Singer“, dem Jahr der großen Pest, fiel der Epidemie
rund ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer.
1945 starben in der Nacht des Bombenhagels und der Zerstörung Pforzheims mindestens
17.000 Einwohner, oder mindestens ein Viertel der Einwohner.
Sehen wir Pforzheim
Die Erinnerungskultur ist ein ethisches Anliegen der Löblichen Singer. Und es ist sicher kein Zufall,
dass Humanismus und humanistische Gedanken in Pforzheim, der Geburtsstadt des Humanisten
Johannes Reuchlin (1455-1522) historisch und aktuell starke Wurzeln haben.
„Sehen wir Pforzheim“
… erinnern wir uns:
In den frühen Morgenstunden des Freitags, 23. Februar 1945, werden im Hauptquartier des Bomben Command der Royal Airforce in High Wycomb die Einsätze für die Abendangriffe bestimmt. Nach dem Luftmarshall Arthur Harris die Wettervorhersagen überprüft hat, gibt er den Befehlt, dass der Hauptangriff dieses Tages der Stadt Pforzheim gelten soll.
Um 10.25 Uhr
gehen diese Weisungen an die Flottenkommandeure der Royal Air Force und der 8. US Army Air Force per Fernschreiber. Der Einsatzbefehl lautet AC 865 -23.Feb.- Geheim,
Ziele und Zielpunkte der Nachtangriffe 23./24.Februar, Yellowfin,
Zerstörung des bebauten Stadtgebiets sowie aller anliegenden Bahneinrichtungen.
Yellowfin – Gelbflosse – war der Tarnname für Pforzheim. 94 deutsche Städte waren mit solchen
Codes versehen. Und wurden seit Februar 1942 gezielt angegriffen und zerstört.
Zwischen 12.30 und 13.30 Uhr
erfolgten die Einsatzbesprechungen der Bomber Crews.
Zwischen 15.00 und 16.45 Uhr
sammelten sich 362 Bomber des Typs Lancaster, 3 Liberator Bomber und 1 Flying Fortress über Südengland zur Bombenflotte.
Um 17.00 Uhr
überquerte der Bomber-Verband den englischen Kanal.
Gegen 18.00 Uhr
machen sich 13 Mosquitos, die als Pfadfinder für die Bomber das Ziel mit leuchtenden Zielmarkierungsbomben, sogenannten Christbäumen, markieren sollen, auf den Weg.
19.37 Uhr
befindet sich die erste Maschine über Pforzheim und meldet dem Flottenkommandant:
Mond ¾ voll, klar, keine Wolkenbänke, leichter Bodennebel. Sicht gut, Alles in Ordnung, viel Glück.
19.48 Uhr
wird in Pforzheim Fliegeralarm gegeben.
19.52 Uhr
treffen in 8.400 Meter Höhe die ersten Mosquitos über dem Marktplatz ein und werfen bis 20.05 Uhr insgesamt 24 rote Zielmarkierungen ab, um das zu zerstörende Areal genau zu markieren.
Um das insgesamt Zielgebiet zu erhellen, werfen jetzt die Mosquitos die Leuchtbomben, die „Christbäume“, ab. Das Zielgebiet ist jetzt schlagartig erhellt.
19.54 Uhr
Die ersten Flugzeuge werfen Minen und Sprengbomben ab. Sie reißen die Häuser auf, um Nischen
und Zugluft für die Brandbomben zu schaffen, die der Hauptverband heranträgt.
19.58 Uhr
fallen die ersten Brandbomben.
Jede der nun folgenden Angriffswellen dauert 4 Minuten, um die Stadt zu überfliegen und den Bombenteppich zu legen.
Nach 20.06 Uhr
ist die Rauchentwicklung der Brände so stark, dass die anfliegenden Maschinen nichts mehr unterscheiden können. Schon kurz nach dem Abwurf der ersten Brandbomben war ein Großfeuer ausgebrochen.
Das Stadtgebiet gleicht einem Feuermeer funkt ein britischer Pilot zu der Szenerie.
Von 20.05 Uhr existiert ein Funkspruch:
„Man kann die ganze Stadt einfach abschreiben“
20.10 Uhr
werden die letzten Bomben auf Pforzheim abgeworfen.
Beim Rückflug des Bomberverbands wird festgestellt, dass der Feuerschein noch 160 km weiter zu ‘
sehen ist. Eine schwarzbraune Rauchsäule steigt über Pforzheim bis auf 3.000 Meter hoch.
Die letzten Bomber kehren gegen 1.00 Uhr auf ihre Fliegerhorste zurück.
Eine halbe Million Bomben wurden auf Pforzheim abgeworfen mit einem Gesamtgewicht von
1.500 Tonnen.
Vom Gaswerk im Osten, bis zur Wildergrundallee im Westen wurde ein Gesamtgebiet von 237 Hektar total zerstört.
Die Feuer waren so heiß, dass Metalle, deren Schmelzpunkte zwischen 1.000° und 1.700° Celsius
liegen, zu Klumpen zusammengeschmolzen waren.
Der Tod trat in vielen Gestalten an die Menschen. In machen Kellern waren sie wegen der Gaseinwirkung eingeschlafen. Sehr viele starben qualvoll durch Verbrennen. Und viele wurden verschüttet und konnten nicht befreit werden. Viele wurden einfach zerfetzt.
Die überlieferte Zahl der Toten des 23. Februar 1945 wird später mit 17.600 angegeben. Wahrscheinlich sind es jedoch 20.000 oder mehr Pforzheimerinnen, Pforzheimer, Säuglinge, Kinder, Alte, Kranke und Gesunde und Menschen, die sich an ihrem Schicksalstag aus irgendeinem Grund in der Stadt aufgehalten hatten: als Gäste, Flüchtlinge, Soldaten, Verwandte, Gefangene.
Keiner weiß die Zahl, keiner kennt alle Namen.
„Sehen wir Pforzheim“
… erinnern wir uns.
Warum wurde Pforzheim zerstört?
Die Erklärung hierfür ist nüchtern und ernüchternd:
Die wichtigsten Luftangriffsziele der Alliierten betrafen Kraftstoffe, Transportwesen, Flugzeugbau, Landebahnen, U-Bootbau und Panzerbau.
Auf diesen speziellen Ziellisten war Pforzheim nicht vermerkt.
Die Industrieanlagen Pforzheims hatten die niederste Prioritätenstufe III der Alliierten.
Auch das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Kriegsführung maß 1945 den Pforzheimer Firmen
relativ wenig Bedeutung zu. Obwohl in Pforzheim Zünderteile und Präzisionselemente produziert wurden.
Es drängt sich deshalb nur das ernüchternde Fazit auf, dass Pforzheim nicht wegen seiner Industrieanlagen zerstört wurde, sondern auf der Zielliste für Flächenangriffe stand. Dem konzentrierten Städteangriffprogramm, das Arthur Harris entwickelt und erfolgreich angewandt hatte um zu zeigen, was die Bomberflotte der Royal Air Force leisten konnte.
Deshalb musste Pforzheim am 23. Februar 1945 sterben. Denn es gab im Februar 1945 keine militärische oder rüstungstechnische Notwendigkeit unsere Stadt auszulöschen.
Am 28. März 1945 hatte der englische Premierminister Churchill – vertraulich – an den Vorsitzenden
des kritischen Generalstabes Ismay geschrieben:
„Der Moment scheint mir gekommen, wo die Frage der Bombardierung deutscher Städte einfach zum Zweck der Erhöhung des Terrors – auch wenn wir andere Vorwände nennen – überprüft werden sollte.
Die Zerstörung Dresdens bleibt eine ernste Frage an die alliierte Bombardierungspolitik“
Dieses vertrauliche Memorandum wurde durch Ursula Moessner-Heckner, geb. 1935 in Pforzheim,
in den britischen Kriegsarchiven entdeckt.
„Sehen wir Pforzheim.“
… erinnern wir uns an den Oberbürgermeister der Wiederaufbauphase von dem dieses Zitat, der Titel unserer heutigen Matinee, stammt.
Gestern, am 3. März 2007, jährte sich der Todestag des ehemaligen Pforzheimer Oberbürgermeisters,
Dr. Johann Peter Brandenburg zum 30. Mal, der als der entscheidende Mann des Wiederaufbaus unserer zerstörten Heimatstadt Pforzheim gilt.
Unter seiner fast 20-jährigen Amtszeit als OB unserer Stadt wurden Schulen, Brücken, Städtisches Krankenhaus, Jahnhalle, Haus der Jugend, Kindertagesstätten und Kinderheime errichtet. Und vor allem galten seine Aktivitäten dem sozialen Wohnungsbau. Und 1955 setzte Brandenburg auch mit dem „Reuchlinpreis der Stadt“ ein Zeichen der Toleranz gegenüber anderen Kulturen … deutlich als Abgrenzung zur Schreckensherrschaft der Nazis, ihrer Intoleranz und Aggression und Gewalt. Als deren Resultat der zweite Weltkrieg entstand und in dieser Folge die Zerstörung Pforzheims.
Erinnerung wir uns an die Stunde Null, an den 24. Februar 1945:
80 % der städtischen Bebauung, darunter die gesamte Innenstadt, war zerstört.
66 % der bis dahin verfügbaren Wohnungen waren zerstört.
80 % der Industriebauten waren zerstört.
Die Aufräumarbeiten in Pforzheim wurden erst in 1955 abgeschlossen!
Im September 1945 nahm das städtische Planungsamt seine Arbeit auf und entwickelte bis 1948 unter Stadtbaudirektor Kurt Kaiser einen Generalverkehrs- und Baubauungsplan. Dieser Plan diente unter dem Motto „Zerstörung als Chance“ als Grundlage für die gesamte Stadtbauplanung einer autogerechten Stadt. Ein neu geschaffenes örtliches Baurecht mit Baugebietsplan fixierte die Wohnsiedlungen an den Hängen und reservierte den historischen Stadtkern im Tal als Gewerbegebiet für die Pforzheimer Hauptindustrien Schmuck- und Uhrenherstellung. Bereits 1946 entstand die Idee.
Sie wurde konsequent umgesetzt.
So entstand das neue, moderne Pforzheim, ohne Rücksicht und Reminiszenz auf das alte Pforzheim. Schlosskirche und Barfüßerkirche sind die einzigen wiederhergestellten mittelalterlichen Bauten im Stadtkern.
Pforzheim ist die einzige im Krieg zerstörte große deutsche Stadt, die ihre steinerne Geschichte und ihre Bauwerkszeugen nicht mehr wiederhergestellt hat.
„Sehen wir Pforzheim“
… erinnern wir uns.
Beim Wiederaufbau und der damit verbundenen völligen Neuplanung der Innenstadt wurden unter
OB Brandburg zuerst Vorrang und Wert auf Wiederherstellung des benötigten Wohnraums und Wiedererrichtung von Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen, Einkaufs- und Versorgungsstätten der Bürger, Straßen und Gehwege gelegt. Dazu auf das Schaffen von Gewerbe- und Handelsflächen und –Raum.
Als kulturelles Zentrum der Stadt und gleichzeitig bürgerliches Zentrum des humanistischen Geistes wurde dem Bau des Reuchlinhauses Priorität zugemessen: 1953 wurde der Bau beschlossen – 1961 endgültig fertig gestellt. Mit Stadtbibliothek, Archiv, Schmuckmuseum und Kunstausstellungs- und Veranstaltungsräumen.
Der Neubau von repräsentativen und öffentlichen Großgebäuden im Herz der Stadt ließ lange auf sich warten. Die Provisorien waren zwar nicht geliebt, genügten aber über Jahrzehnte.
Es wurden fertig gestellt:
1973 Rathaus
1987 Stadthalle
1990 Stadttheater
2002 Stadtbibliothek
„Sehen wir Pforzheim“
… heute!
Es ist nach über 60 Jahren eine liebens- und erlebenswerte Stadt aus Ruinen neu entstanden. Das spricht vor allem auch für den Mut der Pforzheimerinnen und Pforzheimer, die den Wiederaufbau und Neubeginn in und mit ihrer Heimatstadt gewagt und durchgeführt haben. Und die sich die Erinnerung an das alte Pforzheim bewahrt haben und dies auch wollen.
Dazu leistet die Löbliche Singergesellschaft von 1501 Pforzheim ihren stadtgeschichtlichen Beitrag:
Pro Pforzheim und Region. So mit der heutigen Matinee zur Erinnerungskultur.
Ich übergebe jetzt an Dr. Christian Groh, Stellv. Leiter des Stadtarchivs Pforzheim.
Claus Kuge
(Es gilt das gesprochene Wort)
1992 zeigte die Enthüllung der Statue für Air-Marshall Arthur Harris (“Bomber-Harris”) in London, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf den Bombenkrieg in England und Deutschland noch sind:
In Pforzheim erregte das Aufstellen dieses Denkmals Unmut und Unverständnis. War doch Arthur Harris derjenige,
der die Ausradierung der Stadt am 23. Februar 1945 befohlen und zu verantworten hatte und damit auch den grauenvollen Tod von mehr als 17.000 Pforzheimerinnen und Pforzheimer in einer Nacht…
… um so wichtiger muss es uns heute deshalb erscheinen, sich mit den Begriffen Schuld, Sühne, gegenseitiges Verständnis, Versöhnen und Erinnerung auseinander zu setzen.
Wie es die Nagelkreuzgruppe tut, in deren Reihen u.a. Singer aktiv sind.
Auch die Geste des britischen Botschafters, der mit seiner Anwesenheit in Pforzheim am 60. Jahrestag der Zerstörung der Stadt , im Jahr 2005, ein deutliches Signal der Versöhnung und gleichzeitigen Vergangenheitsbewältigung gab, ist im Rahmen der geistigen Weiterentwicklung von Völkerfreundschaft zwischen Deutschland und England nicht hoch genug einzuschätzen. Und hat in Pforzheim positive Resonanz hervorgerufen.
Copyright:
Alle Rechte vorbehalten. Reproduktionen, Speicherungen in Datenverarbeitungsanlagen oder Netzwerken, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk oder Vortrag – auch auszugsweise – nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.