1 Das Melanchthonhaus in Bretten, Lichtanimation im Jubiläumsjahr 2003 2 Philipp Melanchthon: Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner „Loci theologici“ , nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553 3 Studier- und Sterbezimmer Melanchthons in Wittenberg, Ansicht um 1910 4 Philipp Melanchthon: Titelblatt der „Loci Communes“ (Grundbegriffe der Theologie), 1521 5 Melanchthonhaus in Wittenberg, Ansicht von 1897
Gedenken und Erinnern – Der südwestdeutsche Humanismus und die Europäische Kulturgeschichte
Vortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung der LÖBLICHEN SINGERGESELLSCHAFT VON 1501 PFORZHEIM am 11. Januar 2004
Dr. Günter Frank, Kustos des Melanchthonhauses Bretten
Rede im vollen Wortlaut: Es gilt das gesprochene Wort!
I.
Der 29. Mai 1453 wurde ein Schicksalstag für das Abendland. In den Morgenstunden
dieses Dienstages gelang es dem Heer von Sultan Mehmet II., dem Eroberer, nach einer
zweimonatigen Belagerung Konstantinopel, das Zentrum der östlichen Welt, einzunehmen.1
Erst einen Monat später, am 29. Juni, traf die erste Nachricht von diesem Ereignis in Venedig
ein. Die Ereignisse um den Fall von Konstantinopel lösten im Westen einen Schock aus.2
Trotz aller geläufiger Polemik gegen Byzanz seit dem großen abendländischen Schisma
des Jahres 1054 wußte man im lateinisch sprechenden Westen, daß Byzanz die Wiege
der Kultur, der Wissenschaft und Kunst war, die nunmehr mit der osmanischen Eroberung
zu Ende ging. Byzanz war die wichtigste Vermittlerin der heidnisch-antiken, der jüdischen
und der christlichen Kultur in griechischer Sprache. Hier waren die ältesten Handschriften
des Aristoteles, des Platon oder Philon von Alexandrien, Tragödien von Aischylos, aber
auch die ältesten griechischen Urfassungen des Neuen Testamentes erhalten geblieben.3
1 Über den Fall von Konstantinopel vgl.: Franz DÖLGER (Hrsg.): Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565-1453. 3 Teile, München/Berlin 1924-1932 (Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit); M. BRAUN, A.M. SCHNEIDER: Bericht über die Eroberung Konstantinopels nach der Nikon-Chronik, Leipzig 1943; Franz BABINGER: Mehmed der Eroberer und seine Zeit: Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1953; David STACTON: The World on the Last Day. The sack of Constantinople by the Turks May 29, 1453, Its Causes and Consequences, 1965 (deutsch: Der schwarze Dienstag, Fall von Byzanz, Wien 1965); Steven RUNCIMAN: Die Eroberung von Konstantinopel 1453, München 1966; Agostino PERTUSI: La caduta di Constantinopoli. Le testimonianze dei contemporanei, Milano 1976 (Mit einer ausführlichen Chronologie in der Einführung LIX-XCI); Mesrob K. KRIKORIAN, Werner SEIBT (Hg.): Die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 aus armenischer Sicht, Graz/Wien/Köln 1981 (Byzantinische Geschichtsschreiber 13); Endre von IVÁNKA: Die letzten Tage von Konstantinopel. Der Augenzeugenbericht des Georgios Sphrantzes, Graz/Wien/Köln 1973. Zum 550. Gedenken dieser Ereignisse erschienen als Repliken die Beiträge von Emanuel ECKARDT: Halbmond über dem Goldenen Horn, in: DIE ZEIT, Nr. 23, 28.5.2003, 82; sowie hinsichtlich des von hier aus begründeten türkischen Nationalbewußtsseins Orhan PAMUK: Fall oder Eroberung? Was 1453 in Konstantinopel geschah, in: FAZ, Nr. 123, 28.5.2003, 33. Das Pergamonmuseum in Berlin gedachte dieser Ereignisse durch eine Sonderausstellung. Wissenschaftlich hatte die mit dem Fall verbundene kulturgeschichtliche Thematik wiederum die „Willibald Pirckheimer Gesellschaft“ mit ihrer Tagung „Osmanische Expansion und europäischer Humanismus“ vom 29.-30. Mai 2003 in Wiener Neustadt aufgegriffen. Ausdrücklich sei hier auf die Beiträge dieser Tagung hingewiesen, die im Willibald Pirckheimer-Jahrbuch 2005 publiziert werden.
2 Zu den Reaktionen im lateinischen Westen vgl.: Erich MEUTHEN: Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: HZ 237 (1983) 1-35; zu den Reaktionen in Deutschland den – wenn auch ideologischen – Beitrag von Johannes IRMSCHER: Zeitgenössische deutsche Stimmen zum Fall von Byzanz, in: Byzantinoslavia 14 (1953) 109-122.
3 Grundlegend noch immer Hans-Georg BECK: Das byzantinische Jahrtausend, München 1978.
Tief erschüttert von den Ereignissen in Konstantinopel verfaßte der aus Kues an der Mosel
stammende Nikolaus Krebs, genannt Nicolaus Cusanus (1401-1464), einer der vielseitigsten
europäischen Theologen, seine berühmte Schrift „De pace fidei“ (Über den Frieden im Glauben),
die bereits bis zum 21. September vollendet war.4 Unter dem Eindruck der Schreckensmeldungen
vom Bosporus stellte diese Schrift einen ökumenischen Dialog zwischen Vertretern von siebzehn Religionen und Nationen mit dem Ziel einer Überwindung von Kriegen zwischen den Kulturen,
vor allem auch im Namen der Religion dar. So beginnt die gerade heute wieder lesenswerte
Religionsschrift des Cusaners mit den programmatischen Worten:
Vor kurzem hat der türkische Sultan bei Konstantinopel grausam gewütet. Die Nachricht
davon kam auch einem frommen Mann zu Ohren (Nikolaus Cusanus spricht hier offensichtlich
von sich selbst und seiner früheren Reise mit einer Gesandtschaft zum griechischen Kaiser nach Konstantinopel in den Jahren 1437/38), dem die Sache sehr zu Herzen ging, weil er einst
selbst in der Gegend gewesen war. Darum bat er den Schöpfer aller Dinge inständig darum,
gnädig etwas gegen die Verfolgung zu tun, die grausamer war als sonst üblich, weil sich der
Konflikt an der Ausübung verschiedener Religionen entzündet hatte. Nach einigen Tagen
hatte dieser fromme Mann, wohl weil er ununterbrochen in Meditation versunken war,
eine Vision, die ihn zu der Überzeugung gelangen ließ, daß es einige wenige sehr weise
Menschen gebe, die äußerst genau über die Unterschiede zwischen den Religionen der
Erde Bescheid wüßten, und man daher einen sicheren Weg finden würde, auf dem man leicht
zu einer Versöhnung und zu einem haltbaren Frieden zwischen den Religionen gelangen könne.5
Ein Jahrhundert nach dem Fall von Konstantinopel finden wir einen Nachklang dieser
schrecklichen Ereignisse am Bosporus in ihren Folgen für Europa selbst in der Wittenberger
Bewegung Martin Luthers. 1556 erschien in Wittenberg eine von Melanchthon verfaßte
Rede „Über die Konstantinopolische Gefangenschaft“ (De capta Constantinopoli, Abb. unten).6
De capta Constantinopoli von Melanchthon 1556 in Wittenberg verfaßt
Unter dem Eindruck der neuerlichen osmanischen Bedrohung nach dem Sieg der Türken
in Mohács (1526) und der Besetzung Budas (1541), deren Folgen Melanchthon durch
ungarische Studenten in Wittenberg bekannt waren7, stellt diese Rede nicht nur eine Replik
auf die jüngere Geschichte des Islam, sondern auch auf den Fall von Konstantinopel in
seinen Folgen für das werdende Europa dar. Auf diese Rede wird noch zurückzukommen sein.
4 Vgl. hierzu ausführlich auch die Einleitung der Neuedition: Nikolaus von KUES: Vom Frieden zwischen
den Religionen, lateinisch-deutsch (hg. und übersetzt von Klaus Berger und Christiane Nord),
Frankfurt/a.M./Leipzig 2002; darüber hinaus MEUTHEN (wie Anm. 3) 2.
5 KUES (wie Anm. 5) 29.
6 Wiedergegeben ist diese Rede im CR 12, 153-161. Der Wittenberger Druck befindet sich in der Dauerausstel-lung des Melanchthonhauses.
II.
Tatsächlich bezeichnete der 29. Mai 1453 einen Wendepunkt in der abendländischen
Geschichte. Der Fall von Konstantinopel ist der Markstein, der das Ende des Mittel-
alters bezeichnet. Zwar waren schon vor diesen Ereignissen zahlreiche byzantinische
Gelehrte vor allem nach Italien geflohen – so bereits nach der ersten Einnahme der Stadt
durch das Kreuzfahrerheer im Jahr 1204 -, dennoch wird man sagen können, daß die
Bedeutung dieser griechisch sprechenden Emigranten für die europäische Kultur kaum
zu überschätzen ist. Der bekannte Mediävist Endre von Ivánka schloß seine Erläuterungen
zum Augenzeugenbericht des Georgios Sphrantzes über „Die letzten Tage von Konstantinopel“
mit der Bemerkung:
Diesen byzantinischen Gelehrten ist also die Beschäftigung, das Wissen um die griechische
Kunst zu verdanken, ihnen, daß jener helle Schein, der einst im alten Hellas aufgegangen,
sich allmählich mit einer anderen Lichtquelle, der im Heiligen Land entstandenen monothei-
stischen Religion, zu dem verbunden hat, was wir heute europäische Kultur nennen.9
Voller Lob sind deshalb auch Melanchthons Worte über die Kultur und Bedeutung von Byzanz.
Denn – wie Melanchthon in seiner bereits erwähnten Rede „Über die Konstantinopolische
Gefangenschaft“ euphorisch hervorhob: Nach der Schule von Alexandrien (2. Jhdt. n.Chr.)
seien niemals mehr die Wissenschaften gepflegt worden wie in Byzanz bis zu seinem
letzten Untergang.10
Der Fall von Konstantinopel hatte weitreichende politische, geographische und kulturelle
Folgen für das werdende Europa. Durch den Verlust des Landweges nach Indien mußten
die Europäer nun einen Seeweg finden. Während dieser Suche wurde die „Neue Welt“
im Jahre 1492 entdeckt. Sinnvoll war eine solche Suche nach der „Neuen Welt“ jedoch
nur auf der Grundlage verläßlicher Weltkarten.11 Im Mittelalter dienten Karten, mit Ausnahme
der Seekarten, so gut wie nie der Praxis; sie kannten auch keine Vermessungen.
7 Vgl. hierzu auch die auf Ungarn bezogenen Beiträge in dem Tagungsband: Melanchthon und Europa.
1. Teilband: Skandinavien und Mittelosteuropa (hg. von Günter FRANK, Martin TREU), Stuttgart 2001
(Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 6/1).
8 Vgl. Anm. 2.
9 Ebd. 113.
10 CR 12, 156: „… et post Alexandrinam scholam nusquam plus artium fuit quam Byzantii usque ad hoc
postremum excidium.“
11 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Arthur DÜRST (Hrsg.): Die Cosmographia des Claudius Ptolemäus.
Codex Urbinas latinus 277. Einführungsband zur Faksimileausgabe, Zürich 1983 (Codices e Vaticanis selecti,
Vol. 53); Gerd GRASSHOFF: The History of Ptolemy’s Star Catalogue, New York, u.a. 1990 (Studies in the
History of Mathematics and Physical Sciences 14).
Mittelalterliche Karten wollten nicht Erdabbild, sondern Weltbild sein. Byzantinische Emigranten,
die nach dem Vormarsch der Türken in den Dardanellen 1365 geflohen waren, brachten um
die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert griechische Codizes einer anderen antiken „Geographie“
nach Italien, der
´
(Einführung in die Geographie) des griechischen Astronomen, Mathematikers und Naturforschers Klaudios Ptolemaios (ca. 100 – ca. 180). Diese Wiederentdeckung der
griechischen „Geographie“ des Ptolemaios war für die neuzeitliche Kartographie von
herausragender Bedeutung. Ptolemaios hatte in seiner „Geographie“ Positionen von rund
8000 Punkten der bekannten Eroberfläche angegeben und darüber hinaus Vorschläge für die Landkartenprojektion, Voraussetzung für eine geodätisch fundierte Kartographie, gemacht.
Die erste lateinische Übersetzung der ptolemaischen „Geographie“ war im Jahr 1406 vollendet.
Mit dem Aufkommen der Druckkunst erschien die erste Inkunabel-Ausgabe im Jahr 1475.
Christoph Kolumbus veröffentlichte zehn Jahre vor der Entdeckung Amerikas die Weltkarte
aus dem Ulmer Ptolemaios, einer der schönsten Drucke der „Geographie“ des Ptolemaios.
III.
Voraussetzung für die Aneignung des Wissens und der Kultur des Altertums, wie es in
griechischen Handschriften überliefert war, war jedoch, daß sich der Westen überhaupt die
Kenntnis der griechischen Sprache aneignete.12 Hier spielten griechisch sprechende Emigranten
aus Byzanz, die seit ca. 1400, vor allem aber nach dem Fall von Konstantinopel nach Italien
kamen, eine kaum zu übeschätzende Rolle. So finden wir im Italien dieser Zeit Gelehrte
wie Manuel Chrysoloras (ca. 1350-1415), der in Florenz und in anderen europäischen
Metropolen in Italien, Frankreich und England Griechisch unterrichtete. Neben dem auf Kreta
geborenen Georgios Trapezuntios (1395-1472) gehörte zu diesen byzantinischen Emigranten
auch der damals berühmte Theodoros Gazes (um 1400-1475) aus Thessaloniki. Nach der
Einnahme durch die Türken verließ er im Jahr 1430 seine Heimatstadt und ließ sich – nach
Aufenthalt in Mantua – 1450 in Rom nieder, wo er zu einer ganzen Gruppe führender
Humanisten gehörte, denen der bildungsfreundliche Papst Nikolaus V. die Übersetzung
antiker griechischer Schriftsteller anvertraut hatte. Zu den herausragenden griechischen
Persönlichkeiten gehörten schließlich auch Kardinal Bessarion (1403-1472), Schriftsteller,
Humanist, Philosoph, Politiker und Kultur-Mäzen, sowie der in Konstantinopel geborene
Humanist Johannes Argyropylos (1393/4-1487).13 In seinen späten Lebensjahren ging
Argyropylos nach Rom, wo sich unter seinen Studenten die Namen der beiden
herausragenden nordalpinen Humanisten Johannes Reuchlin und Faber Stapulensis
(Jacques Lefèvre d’Étaples) finden (Abb. unten – Reuchlin-Abbildungen).
Von Johannes Reuchlin existiert kein Original-Porträt – da die Menschen jedoch wissen wollen, wie Berühmtheiten aussehen, haben Künstler verschiedener Epochen idealisierte Porträts von Reuchlin angefertigt.
Wir zeigen hier 2 der idealisierten Reuchlin Porträts aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert.
Aufgrund der Griechisch-Studien und Übersetzungen dieser byzantinischen Emigranten wurde nahezu
das gesamte Wissen des Altertums dem lateinisch sprechenden Westen erschlossen:
die Schriften des Platon und Aristoteles, Manuskripte der frühen Kirchenväter, die
Aphorismen des Hippokrates und die Paraphrase des Ilias – um nur einige Schriften zu nennen.
Das Wissen um die kulturelle Bedeutung dieser griechisch sprechenden Emigranten blieb auch
in der zweiten Generation der nordalpinen Humanisten präsent (Abb. unten, Porträt Melanchthon).
Zeitgenössischer Kupferstich von Albrecht Dürer, Porträt Melanchthon von 1526
In seiner Rede über den Fall von Konstantinopel hob Melanchthon ausdrücklich Gelehrte wie Argyropylos, Laskaris, Theodorus Gazes, Gregorios von Trapezuntios und Manuel Chrysolares
hervor, die Italien nicht nur die griechische Sprache und Philosophie vermittelt hätten, sondern
von hier aus habe Italien zunächst, da es die Eleganz der griechischen Sprache gekostet hatte,
selbst das Lateinische richtiger zu studieren begonnen und die griechische Sprache, auf die
Quellen der Philosophie bezogen, enthüllt. 14
12 Vgl. zum Folgenden den instruktiven Katalog: Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten.
Die Editionstätigkeit der Griechen in der italienischen Renaissance (1469-1523) (hg. von
Dieter HARLFINGER, Reinhard BARM), Weinheim/New York 1989 (Acta Humaniora).
13 Zu Argyropylos vgl. auch: Jerrold SEIGEL: The Teaching of Argyropoulos and the Rhetoric of the first
Humanists, in: Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of E.H. Harbison
(hg. von Theodore K. RAAB, Jerrold SEIGEL), Princeton 1969, 237-260; George HOLMES: The Florentine
Enlightenment 1400-1500, London 1969, 262-265.
14 CR 12, 156: „Ac inde cum in Italiam intulissent Graecam linguam et Philosophiam Argyropylus, Lascaris,
Theodorus Gaza, Trapezontius, Chrysoloras et alii, hic primum Italia, cum Graecae linguae elegantiam
degustasset, Latinam quoque rectius discere coepit, et Graeca lingua aditum ad fontes Philosophiae patefecit.“
Ähnlich auch in seiner Widmungsvorrede an Herzog Johann Ernst von Sachsen, Oktober 1537 (CR 3, 444):
„… exilio Graecorum in Italia non modo Graecae linguae studia excitata sunt, sed etiam restitutae caeterae artes,
quarum vix umbram quandam antea tenebant Latini.“ Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stefan RHEIN:
„Italia magistra orbis terrarum“. Melanchthon und der italienische Humanismus, in: Humanismus und
Wittenberger Reformation (hg. von Michael BEYER, Günther WARTENBERG, unter Mitwirkung von
Hans-Peter HASSE), Leipzig 1997, 367-388. Rhein hat hier vor allem auf die traditionelle Vorstellung der
„translatio studii“ hingewiesen, die zum kulturellen Selbstbewußtsein der Deutschen geworden sei, wie
dies auch in Melanchthons Sicht deutlich wird, in Wittenberg die würdige Nachfolgerin von Florenz zu
sehen (vgl. ebd. 372-375, Anm.34; 48; 51).
Dank dieser byzantinischen Gelehrten fand ein atemberaubender Aneignungsprozeß der
gesamten Weisheit der griechischen Antike statt. Ihre bedeutendsten nordalpinen Vermittler
waren der französische Gelehrte Faber Stapulensis und Johannes Reuchlin, Melanchthons
Lehrer in Pforzheim. Neben Georg Simler, der die erste griechische Grammatik nördlich
der Alpen verfaßte 15, waren beide aber auch exzellente Gräzisten. Reuchlin hatte in Rom
die Thukydides-Vorlesung des Johannes Argyropylos besucht und später bei Demetrius
Chalcondyles (1423-1511) – offenkundig mit außerordentlichem Erfolg – Griechisch studiert. 16
Denn – wie Melanchthon über eine Begegnung seines Lehrers Reuchlin mit Johannes
Argyropylos berichtete, habe dieser, nachdem Reuchlin in Rom seine glänzenden
Griechischkenntnisse vorführte, ausgerufen: „das Griechische hat aus unserem Exil die
Alpen überflogen“. 17 In Deutschland wurde 1515 der erste Griechisch-Lehrstuhl an der
Universität in Leipzig eingerichtet. 18 Die zweite Griechisch-Professur in Deutschland trat
Melanchthon mit seiner Berufung nach Wittenberg an, die ihm sein Lehrer Reuchlin vermittelt
hatte (Abb. unten, Reuchlins Grammatik mit Widmungsschreiben).
Johannes Reuchlin hat seinem Neffen Melanchthon eine griechische Grammatik des Konstantin Laskaris geschenkt, die er mit einer persönlichen Widmung versehen hat. Zum ersten Mal ist hier im Jahr 1509 der Name „Melanchthon“ belegt. Das Original befindet sich in der Universitäts-Bibliothek in Uppsala.
Die Bedeutung dieser Humanisten für die europäische Bildungstradition, ja für die kulturelle Identität Europas überhaupt, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Der bekannte Historiker
Manfred Fuhrmann hat in einer kleinen Denkschrift aus dem Jahr 2002 noch einmal auf
deren epochale Bedeutung für die kulturelle Identität Europas hingewiesen. 19
„Den Humanisten gelang es, inmitten eines erstarrten, steril gewordenen Wissenschafts-
betriebes das ganz Alte als etwas ganz Neues durchzusetzen, und zwar nicht nur in den
Bereichen der Sprache und Literatur, sondern auch in denen der Medizin, der Mathematik
und anderer Disziplinen.20 In Verbindung mit der Reformation war die Erneuerung des
Schul- und Bildungswesens die gründlichste, die in der Zeit zwischen Karl dem Großen
und der Weimarer Klassik stattfand. Dabei hatte diese europäische Erneuerugsbewegung
geistige Zentren, an deren Spitze südwestdeutsche Humanisten standen: Zürich, die Stadt
des Humanisten und Reformators Ulrich Zwingli, Straßburg, die Stadt des Humanisten
Johannes Sturm, sowie Wittenberg, in dessen Mittelpunkt Philipp Melanchthon stand,
Schüler des Johannes Reuchlin aus Pforzheim. 21
15 Zu Simler vgl. Heinz SCHEIBLE: Melanchthons Pforzheimer Schulzeit: Studien zur humanistischen
Bildungselite in Pforzheim in der frühen Neuzeit, in: DERS.: Melanchthon und die Reformation
(hg. von Gerhard MAY, Rolf DECOT), Mainz 1996, 29-70. Vgl. Darüber hinaus Stefan RHEIN:
Philipp Melanchthon als Gräzist, in: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und
Schule bis ins 18. Jahrhundert (hrsg. Günther WARTENBERG, unter Mitarbeit von Markus HEIN),
Leipzig 1997, 53-69
16 Zu Demetrius Chalcondyles vgl. Graecogermania (wie Anm. 12) 40f. Vgl. hierzu auch den
biographischen Kontext der Rom-Studien Reuchlins bei Charles ZIKA: Reuchlin und die okkulte
Tradition der Renaissance, Sigmaringen 1998 (Pforzheimer Reuchlinschriften 6), bes. 23-25.
18 Zur Geschichte der Griechisch-Studien in Deutschland vgl. Niklas HOLZBERG: Willibald Pirckheimer:
griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981, 83-86.
Wenn man von der epochalen Bedeutung der frühneuzeitlichen Humanisten spricht,
darf nicht unerwähnt bleiben, daß diese zum ersten Mal vom „Haus Europa“ sprachen und
damit die mittelalterliche Völkerkategorie des „orbis christianus“ ablösten. Unter diesem
„Haus Europa“ verbanden sie die Vision einer Gemeinsamkeit verschiedener regionaler
Kulturen, die ihren gemeinsamen Ursprung in ihrer Herkunft aus der antiken und christlichen
Tradition besitzen. Noch bevor Europa in den folgenden verhehrenden Religionskriegen und Nationalstaaten zerfiel, war für die Humanisten Europa eine kulturelle Kategorie, die von
Island nach Transsylvanien, von Skandinavien bis zur Iberischen Halbinsel reichte.
IV.
Um die Wende zum 16. Jahrhundert, also genau in jenen Jahren, in denen Ihre „Löbliche Singergesellschaft“ gegründet wurde, waren die wichtigsten Werke des griechischen Altertums
durch lateinische Übersetzungen und – nunmehr durch die gewachsenen Griechischstudien
ermöglichten – griechischen Editionen dem Westen erschlossen. In diesen Jahren, also
um 1500, erreichte die humanistische Bewegung, die, aus Byzanz kommend, ihre Wirkung
zunächst in Italien entfaltet hatte, auch die nordalpinen Länder. Eine Schlüsselfigur in dieser
Transformation bildete der französische Humanist und Gelehrte Faber Stapulensis,
der – wie bereits erwähnt – in Rom unter Johannes Argyropylos studiert hatte.
Faber und sein Schüler Jodocus Clichtoveus (1472-1543) edierten sorgfältig griechische
und lateinischen Texte neu. Von Humanisten wurde Faber Stapulensis überhaupt als
Wiederentdecker des Aristoteles gerühmt. Der aus dem elsässischen Schlettstadt
gebürtige Humanist Beatus Rhenanus (1485-1547), Freund des damals berühmtesten
europäischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, behauptete in einem Brief an Johannes
Reuchlin, Faber habe in Philosophie Barbaro und Argyropylos bei Weitem übertroffen. 22
Reuchlin selbst hielt mit seiner lobenden Anerkennung des französischen Gelehrten nicht
zurück. In dem Widmungsbrief seiner berühmten Schrift aus dem Jahr 1517 „De arte
cabalistica“, die ihn zu einem führenden Vertreter der christlichen Kabbala werden ließ,
hob Reuchlin den epochalen Charakter dieser Gelehrter hervor: „Marsilius gab für Italien
Platon heraus, Jacques Lefèvre d’Étaples gab Aristoteles den Franzosen zurück – ich,
Capnion (also Reuchlin), will den Zirkel schließen und biete Pythagoras, durch mich neu
belebt und Eurem Namen gewidmet, den Deutschen. 23 “ Im Blick auf sich selbst meinte
Reuchlin die ganze jüdisch-hermetische Tradition, die er wieder-beleben sollte und die ihn
zum einflußreichsten Begründer der christlichen Kabbala werden ließ. Wer sich mit dieser
spannenden Geschichte näher beschäftigen möchte, der sei auf die gerade publizierte 10.
Pforzheimer Reuchlinschrift verwiesen, die mein Kollege Wilhelm Schmidt-Biggemann unter
dem Titel „Johannes Reuchlin und die Christliche Kabbala“ veröffentlicht hat.
V.
In einem Artikel veröffentlichte die Journalistin Renate Schostack in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung am 7. Mai 1984 einen Beitrag unter dem Titel „Dornröschen
Melanchthon. Eine Gedenkstätte und ein ungenutzter Bücherschatz“, der für die
Geburtsstadt Melanchthons und den Melanchthonverein in Bretten vernichtend war.
In diesem Artikel hob die Autorin hervor: „Die Rede ist vom Melanchthon-Gedächtnishaus
in Bretten, das zu den außerordentlichen Erinnerungsorten der Reformation in diesem Teil
Deutschlands gehören müßte.“ Und – wie sie fortfährt: „So unwahrscheinlich es klingt in
unserer museums- und wissenschaftssüchtigen Zeit, dieses Haus und seine Bücherschätze
dämmern vor sich hin … Angesichts der Tatsache, daß die meisten Gedenkstätten der
Reformation in der DDR liegen, kann es sich die Bundesrepublik eigentlich nicht leisten,
ein solches Haus im Dornröschenschlaf liegen zu lassen.“ Bei den Schätzen, von denen in
diesem Beitrag die Rede war, handelt es sich um die Bestände des Melanchthonhauses,
die heute immerhin ca. 11.000 Bände Melanchthon-Drucke und Sekundärliteratur,
ca. 500 Autographen, rund 1.000 Porträts, Lithographien und Kupferstiche sowie fast
500 Münzen und Medaillen mit reformationsgeschichtlichen Motiven umfaßt.
Der Grundbestand der Sammlung geht auf die rege Sammlerleidenschaft des in Berlin lehrenden Kirchenhistorikers und Archäologen Prof. Nikolaus Müller zurück (Abb. unten, Nikolaus Müller). 24
Der Sammler, Kirchenhistoriker und Archäologe Professor Nikolaus Müller, Berlin
22 Nach GRAF, Karl Heinrich: Art. Jacobus Faber Stapulensis. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation
in der Schweiz, in: ZHTh 22 (1852) 3-86; 165-237; hier: 8.
23 „Italiae Marsilius Platonem edidit, Galliis Aristotelem Ia. Faber Stapulensis restauravit, Implebo
numerum et Capnion ego germanis per me renascentem Pythagoram tuo nomini dicatum exhibebo.“
Zitiert nach ZIKA (wie Anm. 18) 64f.
24 Vgl. zum Folgenden ausführlich den Beitrag des Vf.: 100 Jahre Melanchthonhaus – Die reformationsge-
schichtliche Gedenkstätte in der Großen Kreisstadt Bretten, in: Gedenken und Rezeption –
100 Jahre Melanchthonhaus (hg. von G. FRANK, S. LALLA), Heidelberg, u.a. 2003, 43-48
(Fragmenta Melanchthoniana 2).
Nikolaus Müller war zeit seines Lebens fasziniert von der Gestalt des südwestdeutschen
Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon, der übrigens im 19. Jahrhundert –
anders als im 20. Jahrhundert – breite Anerkennung im kulturprotestantischen Deutschland
gefunden hatte. In seinen eigenen Forschungen, aber auch in seiner Melanchthon-Begeisterung
zeigte Müller eine außerordentliche kulturgeschichtliche Weite, in der sowohl Melanchthons reformatorisch-ökumenische Bedeutung wie auch seine humanistische Wirkung für die
europäische Kultur zusammentrafen. Und es ist dieser Begeisterung wie auch seinem
diplomatischen Geschick zu verdanken, daß vor nunmehr 100 Jahren das Melanchthon-
Gedächtnishaus in Melanchthons Geburtsstadt errichtet wurde
(Abb. unten, Bau des Melanchthonhauses).
Architekturzeichnung zum Bau des Melanchthonhauses und Originalfotos (rechts handcoloriert) vom Bau des Melanchthonhauses Ausgang des 19. Jahrhunderts. Der Neubau des heutigen Melanchthon-Gedächtnishauses entstand in den Jahren zwischen 1897 und 1903 an der Stelle des ursprünglichen Geburtshauses von Philipp Melanchthon
In seiner Weiherede zur Grundsteinlegung am 16. Februar 1897,
dem 400. Geburtstag Philipp Melanchthons, die sich an einen feierlichen Festgottesdienst
in der Stiftskirche, der Taufkirche Melanchthons, anschloß, hob Müller hervor: „Luther, der
Sohn des Bergmanns, Melanchthon, der Sohn des Waffenschmieds, verschieden in ihren
natürlichen Anlagen, verschieden in ihrer Entwicklung, aber beide verlangend nach der Speise,
die Gott gibt, und darum zu einander gehörig, einander ergänzend, von dem Herrn berufen,
zu ‚verkündigen Seine gewal-tigen Thaten Seinem Volk‘“. So erfolgreich diese wahrhafte
Melanchthon-Renaissance um die Jahrhundertwende war, so abrupt fand sie wenig später
ihr Ende, und zwar mit dem Zusammenbruch des Kulturprotestantismus im 1. Weltkrieg und
der darauf einsetzenden Luther-Renaissance. Jedenfalls geriet des Melanchthonhaus in
Bretten mit seiner Erinnerung an Melanchthons Bedeutung für die Reformation und die
europäische Kulturgeschichte in der Folgezeit – wie der Artikel aus der F.A.Z. aus dem
Jahr 1984 belegt – weitgehend in Vergessenheit (Abb. unten, Panzer auf dem Marktplatz in Bretten).
Panzer auf dem Marktplatz in Bretten im Juli 1945
Erst seit 1986 begann das Melanchthonhaus, aus dem Schlummer des Dornröschenschlafes
zu erwachen. Im Februar diesen Jahres wurde der junge, engagierte und ökumenisch gesinnte Kommunalpolitiker Paul Metzger zum neuen Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt
Bretten ernannt. Metzger erkannte – nicht zuletzt mit Blick auf den Leitartikel in der F.A.Z.
– sofort die Bedeutung des Melanchthonhauses als Museum und darüber hinaus als einer
Einrichtung für Wissenschaft und Forschung. Auf seine Anregung und mit Unterstützung des
anerkannten, und in Pforzheim gebürtigen Heidelberger Melanchthonforschers
Dr. Heinz Scheible hatte daraufhin der Gemeinderat eine Stelle für einen wissenschaftlichen
Leiter des Melanchthonhauses eingerichtet. Gleichzeitig stiftete der Gemeinderat – ähnlich
wie in der Nachbarstadt Pforzheim – den internationalen Melanchthonpreis, der alle drei
Jahre vergeben wird.
Heute ist das Melanchthonhaus als eine „außeruniversitäre Forschungseinrichtung“ ein
anerkannter Partner, der mit vielen Universitäten sowie der Herzog August Bibliothekt
in Wolfenbüttel kooperiert. Enge Beziehungen bestehen zum Melanchthon-Institute
in Houston/Texas, dem ökumenischen „Instituto Philippo Melanthone“ in Rom sowie
den ökumenischen Institutionen in Straßburg, in Paderborn und dem konfessions-
kundlichen Institut der EKD in Bensheim. Eine enge Partnerschaft besteht darüber hinaus
mit anderen reformationsgeschichtlichen Gedenkstätten in Europa und der wohl wichtigsten,
der „Stiftung Luthergedenkstätten des Landes Sachsen-Anhalt“ in der Lutherstadt Wittenberg.
Die internationale Wanderausstellung „Philipp Melanchthon. Briefe für Europa“, die aus
Anlaß des 500. Geburtstages Melanchthons entstanden war, hat in den vergangenen Jahren
die Melanchthonstadt und ihren bedeutendsten Sohn in vielen Städten Europas bekannt
gemacht: in Ungarn, der Slowakischen Republik, Italien und Frankreich. In wenigen Jahren
konnten so aus der Melanchthonstadt bedeutende Impulse für Wissenschaft, Forschung
und die humanistische Kultur in Europa hervorgehen.
Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt sicherlich das 100-jährige Jubiläum des Melanchthonhauses dar, das wir im vergangenen Jahr feiern konnten. Durch Museumstage
und Ausstellungen, durch Tagungen, Foren, Konzerte und literarische Veranstaltungen und
nicht zuletzt durch die Festakademie im vergangenen November wurde sichtbar, daß das
Melanchthonhaus nach 100 Jahren endlich jenen Stellenwert in der Öffentlichkeit gefunden
hat, den es m.E. einnimmt, und zwar als eine europäische Institution von Wissenschaft
und Kultur (Abb. unten, Urban-Art-Show).
Das 100-jährige Jubiläum des Melanchthonhauses 2003 …
… mit der Urban-Art-Show
Alle Fotos von KulturBüro Michael Schödel, Reutlingen
Gerade im Blick auf die frühneuzeitliche Kulturgeschichte, von der ich zu Beginn gesprochen habe, aber auch im Blick auf den europäischen Humanismus, nicht zuletzt auf Johannes Reuchlin, hat unser Gedenken und ‚Erinnern – in Bretten wie in Pforzheim – nicht allein einen historischen Sinn. In diesen
Traditionen finden sich lebendige Perspektiven, die für die ganz aktuellen politischen und
theologischen Debatten von weitreichender Bedeutung sind. Dies wird schon deutlich,
wenn wir auf die – wohl entscheidende – europäische Zukunftsaufgabe blicken:
die Südosterweiterung der Europäischen Union. Schon in den vergangenen Jahren konnte
man in den Diskussionen zur europäischen Integration mitunter den Eindruck bekommen,
als stehe bei diesem europäischen Prozeß eher die politische, institutionelle und ökonomische
Dimension dieses Prozesses im Vordergrund, weniger jedoch die kulturelle Dimension.
Diese Beobachtung scheinen mir auch die gegenwärtigen arbeitsmarktpolitischen und
ökonomischen Sorgen im Zusammenhang der Südosterweiterung der Europäischen Union
zu bestätigen. Gerade wenn man jedoch die Tradition des europäischen Humanismus,
und gerade auch des südwestdeutschen ernst nimmt, muß man allererst sehen, daß dieses
Europa – wie erwähnt – eine kulturelle Kategorie ist. Gestalten wie Philipp Melanchthon
und Johannes Reuchlin, Faber Stapulensis und Erasmus von Rotterdam oder auch der
aus Kroatien stammende Matthias Flacius Illyricus belegen ein Selbstverständnis von
Europa, das durch die Gemeinsamkeit verschiedener regionaler Kulturen geprägt ist.
Die Länder, die nunmehr im Begriff sind, Mitglieder der Europäischen Union zu werden,
sind nach dem Verständnis des europäischen Humanismus schon immer Teil dieses
gemeinsamen Hauses Europa. Für uns, die wir in der Melanchthon- oder auch in der
Reuchlinforschung tätig sind, ist deutlich, daß wir heute eigentlich ein Erbe aufgreifen,
das uns die Humanisten an der Schwelle zur frühen Neuzeit hinterlassen und das Europa
über Jahrhunderte vernachlässigt hatte: die Schaffung eines friedvollen Gemeinwesens
in Europa, das durch die gemeinsame antikchristliche Tradition bestimmt ist.
Vielleicht sollte man hier sogar für die längerfristige Perspektive sagen: die europäische
Integration wird nur gelingen, wenn vor allem auch ihre kulturelle Integration gelingt.
Neben dieser Vision vom gemeinsamen „Haus Europa“ liegt eine wichtige Bedeutung
des europäischen Humanismus in ihrer weitreichenden Bildungsreform, welche das
damalige Europa bis zur Weimarer Klassik geprägt hatte. Dabei lag ihr Bildungsideal nicht
einfachhin in einer Rückwendung zur Tradition und zur Vergangenheit. Die Humanisten
etablierten einen Fächerkanon einer breiten Allgemeinbildung, in der sie das Wissen
der Tradition für die eigenen Zukunftsaufgaben fruchtbar gemacht hatten. Um nur zwei
Beispiele zu nennen: die Entstehung einer geodätisch fundierten Kartographie, wie sie
in der frühen Neuzeit entstand, war ohne Kenntnis der philologisch gesicherten Quellen
des Ptolemaios nicht möglich. Eine religiöse Erneuerung, wie sie die damalige Zeit zweifellos
verlangte, war ohne einen neuen Zugang zu den Quellen des Neuen Testamentes – wie es
die Luther-Bibel belegt – nicht möglich. Wissenschaftlich begründete Orientierung in der
Tradition – so wird man das Bildungsideal des europäischen Humanismus zusammenfassen
können – führt keinesfalls in einen unkritischen Konservatismus, sondern ist Voraussetzung
für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Man muß hier nicht allzu schnell auf die
bildungspolitischen Debatten blicken, wie sie gerade wieder einmal etwa als Forderung
nach Elite-Universitäten als eine Antwort auf die allseits anerkannte Bildungsmisere
in der Bundesrepublik erhoben wird. Aber eines läßt sich aus dem bildungspolitischen
Erfolg des europäischen Humanismus sicherlich gewinnen: eine breite Allgemeinbildung
ist die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit eines Gemeinwesens. In unserer Tradition
liegen die Quellen des Orientierungswissens, aber auch der sozialen Kompetenz, die wir
unabdingbar benötigen, wenn wir die Zukunftsaufgaben in Wirtschaft, Wissenschaft,
Politik und Kirchen lösen wollen. Die 2500 Jahre alte Frage des Aristoteles, was ist das
Glück im Leben des Menschen, wie kann dieses Glück erlangt werden und wie muß ein
öffentliches Gemeinwesen gestaltet sein, damit möglichst viele seiner Mitglieder auch
dieses Glück erlangen können, hat heute genauso Gültigkeit, auch wenn die konkreten
Antworten der Antike nicht mehr die unseren sein können. Und auch eine Erneuerung
des kirchlichen Lebens – dies belegt m.E. deutlich das „Jahr der Bibel“ im Jahr 2003
– wird nicht möglich sein ohne Rückwendung zu ihren Quellen, den biblischen Schriften,
um deren Zugang sich die Humanisten in besonderer Weise bemüht hatten.
Eine Perspektive scheinen mir Melanchthon wie Reuchlin heute in besonderer Weise
zu verkörpern. Für Reuchlin ist es sein erstaunliches Interesse an der Religion des
Judentums, die ihn später auch in die Affaire der sog. „Dunkelmännerbriefe“
hineinzog. Reuchlins Interesse lag vor allem in der Mystik des Judentums, der sog.
Kabbala. In einer Zeit weit verbreiteter antijudaistischer Polemik und sogar Verfolgung
sah Reuchlin in einer christlichen Wiedergewinnung der jüdischen Mystik den Grundbestand
der Weisheit überhaupt. Es ist erstaunlich, wie wenig Reuchlin im jüdisch-christlichen
Dialog ins Blickfeld rückt. Denn es ist eines der strukturellen Probleme des europäischen
Antijudaismus, der im Neuen Testament schon in der Stilisierung des Judas als Christus-
mörder seinen Anfang genommen hatte, die Offenbarung des Judentums allenfalls als
Voraussetzung, Vorgeschichte oder Antizipation der wahren Offenbarung des Neuen
Testamentes zu begreifen. Von hier aus kann die Offenbarung, wie es das Judentum in
seinen Quellen vorfindet, strukturell nie ernst genommen werden. Anders Johannes Reuchlin:
indem er die Mystik des Alten Testamentes als Kern der Weisheit insgesamt begriff,
konnte er der jüdischen Religion eine Eigenständigkeit zuschreiben, die in der europäischen
Geschichte wohl einzigartig ist. Nicht zufällig war deshalb, daß sich Reuchlin im Streit mit
dem konvertierten Juden Pfefferkorn zum Advokaten der jüdischen Literatur machte.
Auch von Philipp Melanchthon, seinem Schüler, sind folgerichtig keine solchen antijudaistischen
Polemiken bekannt, wie sie bei Martin Luther zu finden sind. Im Verständnis des jüdisch-
christlichen Dialogs und in der Überwindung des 2000 Jahre alten Antijudaismus ließe sich
aus dem Ernstnehmen jüdischer Offenbarungsquellen Vieles gewinnen. Übrigens ist es von hier
aus mehr als ein Treppenwitz der Geschichte, daß die Nationalsozialisten – das belegt die
Geschichte des Melanchthonhauses – Melanchthon jüdischer Abstammung wähnten,
weil er Verwandter Reuchlins war. In ihrem ideologischen Eifer hatten sie ganz übersehen,
daß nicht einmal Reuchlin jüdischer Herkunft war. Aber beider Sympathie für das Judentum,
bzw. das Fehlen antijudaistischer Polemik eines Martin Luther genügten den Nationalsozialisten,
den Verdacht jüdischer Abstammung zu verfolgen.
Reuchlins Schüler Melanchthon wurde jedoch viel bedeutsamer in den innerchristlichen
Diskussionen im Westen Europas. Dies gilt nicht nur zwischen der Wittenberger Bewegung
und der Kirche in Rom, sondern auch zwischen den innerevangelischen Bewegungen.
Denn es gehörte zum Schicksal der Reformation, daß diese nicht nur zur Spaltung des westlichen Christentums geführt hatte, sondern auch zum Auseinanderfallen vieler innerevangelischer
Bewegungen. Es ist bekannt, daß Melanchthon an der Einheit des Christentums, aber auch
an der Einheit der evangelischen Bewegung festhalten wollte. Viele haben ihn dafür aus – wie
ich meine – apologetischer Absicht denunziert. Dennoch ist er für die innerprotestantische
wie für die lutherisch-römische Ökumene von herausragender Bedeutung. Die Union der
Badischen Landeskirche, das hat Landesbischof Dr. Ulrich Fischer gerade noch einmal
unterstrichen, wäre ohne die Gestalt Melanchthons undenkbar. Auch wenn dies theologisch
ein sehr schwieriges Problem ist, für das heute noch keine Lösung in Sicht ist, war es aber vor
allem sein Wahrheitsverständnis, das ihn so wichtig für das ökumenische Gespräch macht.
Nach Melanchthon muß sich die Wahrheit – auch in der Religion – immer in der Praxis
bewähren. Deswegen war es nach ihm unzureichend, einfach theoretische, theologische
Positionen zu vertreten. Diese müssen sich allererst in der Praxis erweisen. Melanchthon
war in dieser Position vor allem von der Sorge erfüllt, die Spaltung des westlichen Christentums
– und leider sollte er in dieser Sorge Recht behalten – würde dieses Haus Europa, um
dessen Gestaltung sich die Humanisten gerade so sehr bemühten, durch Religionskriege
in eine Wüste verwandeln. Es war aber vor allem die fortwährende Suche nach Gemeinsamkeit
vor allen Unterschieden, nach Verständigung vor allen Polemiken, nach der neutestamentlichen
Verheißung der einen, wahren Kirche, die ihn zum Ökumeniker des Reformationszeitalters
werden ließ.
Johannes Reuchlin und Philipp Melanchthon – die Namen verbinden die beiden Städte
Pforzheim und Bretten in ihrer gemeinsamen Tradition des europäischen Humanismus.
Für die Zukunftsfähigkeit Europas liegen in dieser gemeinsamen Tradition die
richtungsweisenden Quellen.
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