Ein Raum für Reuchlin
Das Reuchlinkolleg – Bedeutung und Wiederaufbau
Bericht:
Dr. Christoph Timm
Wie niemals vor- oder nachher stand die Dreitälerstadt hinter den sieben Bergen an der Wende zur Neuzeit im Fokus der gelehrten Welt. Die Landesherren Karl I. und Christoph I. von Baden förderten Wissenschaft und Bildung, die Lateinschule der kleinen markgräflichen Residenzstadt hatte Zulauf von
Nah und Fern und entwickelte sich unter Georg Simler und Johannes Hiltebrant zu einer der berühmtesten deutschen Humanistenschulen. Ihre Absolventen, von Philipp Melanchthon über Nikolaus Gerbel,
Caspar Glaser, Wolfgang Capito, Berthold Haller, Franz Irenicus bis hin zu Simon Grynaeus gehörten
zur humanistischen Bildungselite der Reformationszeit. Auch andere Intellektuelle wie der Geograf Sebastian Münster, der Arzt Johann Widmann, der Drucker Thomas Anshelm oder der Kirchenmusiker Leonhard Kleber fühlten sich damals von Pforzheim angezogen. Vor allem aber war es Johannes Reuchlin, der den Namen der Stadt weit über ihre Tore hinaustrug.
So verwundert es nicht, dass Kulturpolitik und Stadtmarketing seit Jahrzehnten auf die Karte „Reuchlin“ setzen – und das nicht ohne Erfolg. Reuchlinhaus und Reuchlinpreis, Reuchlin-Gesellschaft, Reuchlin-Tagungen und Reuchlin-Apotheke künden von derlei Bemühungen. Die Einrichtung einer landes-
finanzierten Reuchlin-Forschungsstelle hat das Unternehmen auf wissenschaftlicher Basis etabliert.
Der Popularität Reuchlins sind allerdings Grenzen gesetzt. Ein wesentlicher Grund dafür ist fehlende Anschaulichkeit: Wer im Stadtraum auf Reuchlins Spuren wandeln möchte, der läuft ins Leere: Die historischen Orte der Reuchlin-Zeit sind gänzlich ungreifbar geworden. Ausgelöscht ist der Schulplatz
mit der früheren Prediger- oder Dominikanerklosterkirche, Vorfahrin der heutigen Stadtkirche und Begräbnisort von Reuchlins Mutter Elisabeth Eck, deren Grabstein erst nach dem Abbruch der Kirchenruine im frühen 19. Jahrhundert spurlos verschwand (Pflüger 1862, S. 169). Aus dem Stadtbild getilgt wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Reuchlinstraße, Hinweis auf das nahe Umfeld seiner Kindheit beim Dominikanerkloster, die Schulstraße und die Pfarrgasse mit den Überreste der Lateinschule. Weitaus am schwersten wiegt jedoch der Verlust des Reuchlinkollegs, des ehemaligen Raums der Reuchlinbibliothek, der gemeinsam mit der Schloßkirche dem Großangriff der Royal Air Force vom
23. Februar 1945 zum Opfer fiel. Die Schloßkirche selbst wurde wieder aufgebaut, das Reuchlinkolleg aber nicht: Anfängliche Bestrebungen auf Landesebene verliefen im Sande, nachdem unter anderem die Kirchengemeinde ihr Desinteresse bekundete.
Seither konnten durch zahlreiche wissenschaftliche Beiträge die Kenntnisse zur Vita Reuchlins und zur Geschichte der Pforzheimer Bildungseinrichtungen wesentlich erweitert werden (Krebs 1955, Brosius 1972, Fouquet 1983, Luther 1983, Scheible 1989, Kremer 1997, Melanchthon 1997). Die Badische Landesbibliothek rief sich ihre Pforzheimer Ursprünge in der Schloßkirche in Erinnerung (Festschrift
1992, S. 13, 14). Die nie verstummten Bestrebungen und Appelle, das Reuchlinkolleg wiederaufzubauen, haben dadurch neue Grundlagen erhalten. Das soll in diesem Beitrag begründet und ausgeführt werden.
Das Kollegiatsstift St. Michael
„Reuchlinkammer“ war die volkstümliche Bezeichnung für den Sakristeianbau, der sich an die
Südseite des spätgotischen Stiftschors schmiegte und mit jenem gemeinsam um 1470 entstanden war. (Kunstdenkmäler 1939, S. 81) Bis heute überragt der Stiftschor durch seine bemerkenswerte Höhe die älteren Bauteile der Schloßkirche und prägt so das Stadtbild der Innenstadt mit. Seine dominierende Stellung wird verständlich, wenn man sich den Entstehungszusammenhang bewusst macht: Der Stiftschor repräsentierte das Michaelsstift, dessen Gründung Markgraf Karl I. 1459 von Papst Pius II. mit der Erhebung der Schloßkirche zur Kollegiatsstiftskirche erwirkt hatte (Fouquet 1983). Er war damit zeichenhafter Ausdruck eines bildungs- und religionspolitischen Programms.
Schloßkirche mit Stiftschor und Reuchlinkolleg, Ansicht von Süden, um 1830
Einrichtungen und Grundbesitz des Michaelsstifts am Schloßberg (schwarz markiert),
Lageplan nach Oskar Trost 1961
Das Stiftskollegium, eine Kongregation von Weltgeistlichen („Kanonikern“), bestand neben dem Dekan aus elf Stiftsherren, zwölf Vikaren und vier wechselnden Chorschülern, deren prominentester Johannes Reuchlin war. Das Besetzungsrecht der Pfründen behielt sich der Markgraf persönlich vor. Ab 1504 vertrat zusätzlich ein Propst das Stift nach außen. Die Liste der Stiftsherren und Vikare (Fouquet 1983,
S. 143-169) enthält illustre Namen, darunter Adam Frey, Johannes Unger, Leonhard Kleber und Christoph Wertwein. Die Rechte und Pflichten der Stiftsherren waren in Statuten geregelt, so die Zelebration der Gottesdienste zu festgesetzten Zeiten, das Tragen weißer Chorröcke und die Residenzpflicht. Das Michaelsstift besaß daher außer dem Versammlungsort Stiftschor mehrere
Wohn- und Wirtschaftsgebäude, die gemeinsam eine Art „geistlichen Bezirk“ unterhalb der Schloßkirche bildeten. Nach den Ergebnissen der Hausforschung gehörten dazu der ehemalige Weilersche Adelshof
am Schloßberg (später Nr. 8/10), das Große Stiftsherren- und Pfründhaus in der Pfarrgasse
(später Nr. 13), das Präsenzhaus (später Pfarrgasse 9) und das spätere Anwesen des Hofmeisters Melchior von Schauenburg am Schloßkirchenweg (Trost 1961, S. 98, 101-102). Zwischen der benachbarten Lateinschule und dem Stift gab es personelle und wohl auch organisatorische Vernetzungen: So war Johannes Unger sowohl Schulrektor als auch Prediger an der Schloßkirche. Die Annahme, dass Gebäude des Stifts zeitweise auch dem Unterricht oder der Unterbringung auswärtiger Schüler gedient haben könnten, erscheint durchaus plausibel (Trost 1961, S. 101).
Die ökonomische Grundlage des Stifts bildeten Einkünfte aus Grundherrschaft und Kapitalzinsen sowie
aus Zahlungen der Gläubigen für seelsorgerliche und liturgische Leistungen. Zu diesen Leistungen gehörten z. B. das Hören der Beichte, das Spenden des Sterbesakraments, das Begräbnis oder die Feier von Jahrzeitgedächtnissen. Neben dem Landesherren waren so auch Stadtadel und bürgerliche Oberschicht
an der Finanzierung des Stifts beteiligt. Die Einkünfte flossen meist nicht dem Stift als solchem zu, sondern den einzelnen Pfründen. Insgesamt war das Stift schließlich in über hundert Orten der weiteren Umgebung zinsberechtigt (Ohnemus 1961, S. 181-182; Fouquet 1983, S. 125-137). Eine Art Außenstelle bestand
im Dorf Niefern, wo das Stift ein eigenes Hofgut bewirtschaftete. Die Nieferner Pfarrkirche wurde um 1480/90 zur „kleinen Schwester“ des Pforzheimer Stiftschors ausgebaut, wie der reich ausgestattete Innenraum bis heute bezeugt (Köhler 1996).
Für die Residenzstadt mit ihrer Lateinschule bedeutete das Michaelsstift eine enorme Aufwertung, kam
ihm doch als Forum der Begegnung von Kirche und Welt ein besonderer gesellschaftlicher und politischer Rang zu (Fouquet 1983, S. 108). Die nahezu zeitgleiche Errichtung von Stiften in Baden-Baden 1453
und Ettlingen 1459 unterstrich die weitreichenden Pläne des Landesherren, die Attraktivität der Städte seines Territoriums zu erhöhen. Eine Eingabe an den Papst, die 1972 im Vatikanischen Archiv auftauchte, belegt, dass Karl I. darüber hinaus beabsichtigte, in Pforzheim eine Landesuniversität einzurichten
(Brosius 1972). Nach dem schlimmen Ausgang seines Kriegszugs gegen die Pfalz 1462 fehlte jedoch
das Geld, dieses Vorhaben weiter zu verfolgen, wovon – nebenbei bemerkt – die württembergische Universitätsgründung in Tübingen profitierte.
Hans Spryß, der Baumeister des Stiftschors
Allein der Stiftschor blieb bis in unsere Gegenwart als Erinnerung an das Michaelsstift erhalten. Sein Baumeister, der im Chorgewölbe der Nachwelt sein Porträt und Meisterzeichen hinterließ, war der markgräflich-badische Dienstmann Hans Spryß von Zaberfeld aus dem Zabergäu. Einer Urkunde von 1475 zufolge besaß Hans Spryß ein Haus am Marktplatz, zählte also zu den wohlhabenden Bürgern
der Stadt (Vischer 1911, S. 94-95).
Auf den gebührenden künstlerischen Rang dieses Meisters machte Anneliese Seeliger-Zeiss im Rahmen der umfangreichen Festschrift zum Jubiläum des Klosters Hirsau vor einigen Jahren aufmerksam
(Seeliger-Zeiss 1991). Gebürtig aus Zaberfeld im Zabergäu und geschult an englischen und niederländischen Vorbildern, gehörte Spryß zu den Neuerern der spätgotischen Baukunst in Südwestdeutschland. Gleich begabt als Architekt und Bildhauer, spielte er sein Talent sowohl in großzügiger Weite als auch in ästhetischer Verfeinerung aus. Zu seinem Erkennungszeichen wurden die überkreuzten Gewölbeanfänger, eine innovative Formerfindung, die die Errichtung von leichtfüßigen, elegant aus der Wand herauswachsenden Gewölben erlaubte. Ein skulptierter Schlussstein mit dem Erzengel Michael als Kirchenpatron, geborgen aus den Trümmern des kriegszerstörten Reuchlinkollegs, zeugt von der Kunstfertigkeit des Meisters als Bildhauer.
Spryß avancierte zu einem gefragten Baumeister auch außerhalb der kleinen Markgrafschaft. So findet
sich sein Meisterzeichen neben den Pfarrkirchen in Eutingen und Niefern auch an den Chorbauten in Öhringen, Ettlingen und Herrenalb. Vor allem aber war er der Schöpfer des vielbewunderten Klosterkreuzgangs in Hirsau, der heute als pittoreske Ruine noch immer die Touristen anzieht. Einer
seiner Schüler war Peter von Koblenz, der diesen Kreuzgang mit der zugehörigen Marienkapelle sowie
die Wallfahrtskirche in Lienzingen vollendete. Ausgangspunkt der künstlerischen Entwicklung war der Stiftschor in Pforzheim mit seinem kostbaren Hallenlettner, das eindrucksvolle Frühwerk des Hans Spryß (Köhler/Timm 1996).
Hans Spryß, Meisterbild im Gewölbe des Stiftschors
Schlussstein mit dem hl. Michael vom ehem. Reuchlinkolleg, heute im Archivbau
Magazine des Wissens
Der Südanbau des Stiftschors fußte mit seinem bildbestimmenden, schräg abgeschleppten Pultdach auf dem Tonnengewölbe eines Untergeschosses, der bis in die Gegenwart intakten Südgruft. Im Erdgeschoss befand sich eine Sakristei. Die Erinnerung an Reuchlin im engeren Sinne bezog sich auf das Obergeschoss: Dort wurde einst in sicherer Höhe seine Büchersammlung aufbewahrt, von außen unzugänglich, von innen erschlossen über eine Steintreppe, die über den wunderbaren, von Hans Spryß errichteten Lettner zwischen Vorchor und Stiftschor führte.
Reuchlinkolleg, Zeichnung des Vorkriegszustands, 1955
Unbeachtet blieb in der bisherigen Geschichtsschreibung, dass das Reuchlinkolleg mit diesem architektonischen Aufbau einem vorgeprägten Bautyp folgte. Gemeint ist der Typus der mittelalterlichen Kirchenbibliothek, in der bauliche Hülle und Büchermagazin eins wurden. In der „heißen Vorphase“ der Reformation erlebte dieser Typus als urbane Bildungseinrichtung seine Blütezeit, gefördert durch landesherrliche und bürgerliche Stiftungen, durch die geistigen Strömungen von Scholastik, Philosophie
und klassisch-humanistischer Bildung sowie durch die Verbreitung des Buchdrucks. Die Kirchenbibliothek wurde zum Symbol einer Renaissance des Wissens und einer Revolution des Wissenstransfers, die man in manchen Aspekten zur Verdeutlichung mit der gegenwärtigen Internet-Revolution vergleichen könnte.
Abzuleiten ist dieser Typus in architektonischer Hinsicht vermutlich von klösterlichen Baumustern.
Bereits der berühmte karolingische Idealplan eines Benediktinerklosters, der in St. Gallen aufbewahrt
wird, weist Schreibstube und Bibliothek in zwei übereinander angeordneten Räumen aus, die seitlich an
die Klosterkirche angefügt gedacht waren. Die vorgesehene erhöhte Lage der Bücherstube dürfte praktische, aber auch repräsentative Gründe gehabt haben: Schutz vor Nässe, Tieren und Diebstahl,
aber eben auch die symbolische Erhöhung des Wortes Gottes, des wertvollen Buch- und Wissensschatzes im „Elfenbeinturm“. Klöster waren im Früh- und Hochmittelalter die Zentren der Schreib- und Buchkultur, so auf der Reichenau, in St. Gallen, Corvey oder Regensburg. Ihnen traten in den Städten die Kathedralen, Dome, Münster, Stiftskirchen und Bettelordenskirchen, später die Stadtpfarrkirchen zur Seite. Eine anspruchsvolle Frühform des doppelgeschossigen Anbaus zeigt die burgundische Kathedrale von Autun, entstanden zwischen 1120 und 1140. In mehreren Varianten verbreitete sich der Typus mit dem romanischen Kirchenbau und gewann in der Gotik seine klassische Gestalt: Eine seitlich dem Chor angefügte Sakristei, darüber eine Art Emporenkapelle als Archiv für Bücher, Urkunden und weitere Teile des Kirchenschatzes, mit kurzem Weg zum zentralen Ort des liturgischen Geschehens. Ein Blick in das
15. Jahrhundert zeigt den Typus in Deutschland voll entwickelt: In Leipzig der Thomaschor des Augustiner-Chorherrenstifts (1213-23), in Hamburg der „Herrensaal“ von St. Jacobi (1434-38), in Eisleben die Bibliothek der Marktkirche St. Andreas, in Isny im Allgäu die Bibliothek der Nikolaikirche (um 1460), in Braunschweig als Sonderfall freistehend die „Liberei“ (1412) der Andreaskirche, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Auch die drei Pforzheimer Stadtklöster besaßen jeweils eigene Bibliotheken, deren Räume nicht über-
liefert sind, von deren Existenz jedoch einzelne, heute über ganz Deutschland verstreute Bände zeugen. Mindestens dreizehn mittelalterliche Handschriften lassen sich aus dem früheren Dominikanerinnenkloster nachweisen (Schulze 1995). Auch das Dominikaner- und das Franziskanerkloster besaßen sicher eine Buchsammlung. Das von der Forschung bislang unbeachtete Thema „Bestände aus den Pforzheimer
Stifts- und Klosterbibliotheken“ hätte eine gründliche wissenschaftliche Bearbeitung verdient, worauf
Olaf Schulze bereits vor sechs Jahren aufmerksam gemacht hat.
Mittelalterliche Miniaturen geben eine Vorstellung vom Innenleben solcher Kloster- und Kirchenbibliotheken. Die Handschriften und Bücher waren in Kästen verwahrt, deren Deckel häufig dachähnliche Schrägen hatten, um zugleich als Auflage und Lesepult dienen zu können. Lesepulte, später auch Tisch und Stühle, ergänzten die Möblierung. Durch Abschriften, Zuerwerb, Stiftungen und Schenkungen erweiterte sich vielfach der Buchbestand bald über die für liturgische Zwecke erforderliche Grundausstattung hinaus. Wo die Kästen nicht mehr ausreichten, wurden die Bücher nach und nach in
der bis heute üblichen Weise in Regale an den Außenwänden eingestellt.
Kaum eine der zahlreichen mittelalterlichen Kirchenbibliotheken ist indessen unversehrt und unverändert
in unsere Zeit gekommen. Wo Bestände stark anwuchsen, kam es spätestens in der Barockzeit zur Verlagerung in größere Bibliothekssäle. Die weitaus größere Zahl ehemaliger Kirchenbibliotheken wurde aber, beginnend mit der Reformationszeit, in alle Winde verstreut oder durch mangelnde Pflege und Sorgfalt der allmählichen Vernichtung preisgegeben. Zurück blieben unbeachtet die entleerten Räume
der Choranbauten.
Eine seltene Ausnahme stellt die Bibliothek der Nikolaikirche in Isny dar, die am originalen Ort mitsamt ihrer kompletten Ausstattung überliefert ist. (Kammerer/Kopp 1949). Diese Bibliothek entspricht sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungszeit als auch ihrer räumlichen Unterbringung und ihres Umfangs den Verhältnissen, wie wir sie auch für das Pforzheimer Michaelsstift annehmen können. Ein Konstanzer Domherr legte 1462 mit der Stiftung etlicher Handschriften die Grundlagen für diese Bibliothek in seiner Heimatstadt. 1482 wuchs sie durch die Schenkung von 29 Bänden eines Isnyer Pfarrers. Unter den heute vorhandenen 70 Handschriften befinden sich Werke der Kirchenväter, Bibelteile, Breviere und Predigtsammlungen, Mess- und Gesangbücher. Weiter besitzt die Bibliothek insgesamt 171 Wiegendrucke (Inkunabeln), kostbare frühe Buchdrucke aus Deutschland, Frankreich und Italien, die Isnyer Kaufherren wahrscheinlich von ihren Handelsreisen mitbrachten. Auch die Druckerzeugnisse der Reformationszeit mit ihren Flugschriften, Sermonen, Traktaten, Sendschreiben und wissenschaftlichen Abhandlungen fanden Eingang in die Bibliothek, darunter Werke von Melanchthon, Zwingli und Oekolampad, Bucer, Bugenhagen und Capito, Druckerzeugnisse aus der Hagenauer Offizin Thomas Anshelms und aus einer lokalen hebräischen Druckerei. Für die Reuchlinforschung interessant ist die anonyme Mitschrift einer hebräischen Vorlesung aus Ingolstadt von 1520, die offenbar als „Mitbringsel“ nach Isny geriet.
Bibliothek der Nikolaikirche in Isny, Innenraum
Von der Stiftsbibliothek zum „Collegium Reuchlinianum“
Die Hypothese erscheint nicht zu gewagt: Im späteren Reuchlinkolleg dürfte bereits eine Bibliothek
existiert haben, bevor der Gelehrte seine berühmte Sammlung griechischer und hebräischer Bücher
1522 testamentarisch dem Michaelsstift vermachte. Gab es die Stiftsbibliothek bereits, so folgt daraus
fast zwingend, dass er sie auch aus eigener Anschauung kannte, wenngleich sich dafür bislang kein Quellenbeleg gefunden hat. Erwiesen ist, dass Reuchlin sich im dienstlichen Auftrag wie zu privaten Besuchen häufiger in Pforzheim aufhielt und die Verbindung zum Pforzheimer Humanistenkreis pflegte.
Dies scheint der wahre Kern der legendären Überlieferung vom „Reuchlinschen Hörsaal“ („Auditorium“) sein, auf die noch näher einzugehen sein wird.
Aufbau und Sammlungsbestand der Stiftsbibliothek liegen allerdings völlig im Dunkeln. Orientiert man
sich am Beispiel von Isny, so wäre zu erwarten: eine Grundausstattung an theologischen und liturgischen Schriften, Inkunabeln aus der Pforzheimer Offizin Thomas Anshelms, Schriften der Humanisten und Reformatoren. Stiftete darüber hinaus vielleicht der berühmte Arzt Johann Widmann, der 1524 in Pforzheim verstarb, seine Bücher dem Michaelskolleg? Und was steuerten die Stiftsherren, die Kaufleute, die berühmten Lehrer der Lateinschule bei? Wir werden es vielleicht nie erfahren.
Nur ein Werk konnte bislang der Bibliothek mit einiger Gewissheit zugeordnet werden: Das Stundenbuch des Markgrafen Christoph I., eine prächtige spätmittelalterliche Handschrift, entstanden um 1488/91
in Paris als bebildertes Gebetbuch für den persönlichen Gebrauch. Das Buch gelangte wahrscheinlich
mit dem Tod Christophs (1527) in die Bibliothek des Michaelsstifts, von dort nach Durlach und zählt
heute zum wertvollsten Buchschatz der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe (Stundenbuch, Kommentarband S. 233). Ob mit dem Weg in die Michaelsbibliothek ein Besitzwechsel verbunden
war, ist jedoch unklar. Fast plausibler erscheint die Annahme, dass die Stiftsbibliothek damals bereits zugleich als Hofbibliothek diente, so wie die Schloßkirche zugleich Hofkirche war.
Allein Johannes Reuchlins Vermächtnis ist dank eines 1913 im Vatikan entdeckten Verzeichnisses
genauer fassbar. Es bestand demnach aus mehr als 50 griechischen Werken, Grammatiken und Lehrbüchern, Handschriften und Wiegendrucken griechischer Autoren, sowie mindestens 36 hebräischen Handschriften und Wiegendrucken (Preisendanz 1955, S. 79-82). Nach dem Willen des Stifters sollten diese Bücher innerhalb der Schloßkirche den Fachgelehrten zu Studienzwecken zur Verfügung stehen.
Das Michaelsstift, die Hofkirche der badischen Markgrafen, bot aller Voraussicht nach die beste Gewähr für die Erfüllung dieser Bestimmung, und zugleich konnte der Gelehrte so einen Akt der Pietät gegenüber Fürstenhaus und Heimatstadt vollziehen. Wie aus verschiedenen Gesuchen an den Markgrafen aus der
Zeit nach 1522 hervorgeht, war die Bibliothek in Fachkreisen bekannt und wurde tatsächlich benutzt (Preisendanz 1955, S. 51-52).
Dennoch sollte es nicht lange dauern, bis Reuchlins Bücher Pforzheim verließen. Auslöser dafür war
die Reformation. 1524, sieben Jahre nach dem berühmten Thesenanschlag Luthers und nur zwei Jahre nach dem Tod Reuchlins, war Johannes Unger nach Pforzheim gekommen, ein enger Freund Melanchthons und Anhänger Luthers. Vom Landesherren toleriert, begann Unger in der Schloßkirche
die lutherische Lehre zu verbreiten. Von einem Stiftsherren gingen damit wesentliche Impulse zur Einführung der Reformation in der Markgrafschaft aus, die aber zugleich den Fortbestand des Stifts
in Frage stellen mussten.
Im Jahre 1555 entschloss sich Karl II. nach längeren Beratungen, entsprechend dem Württemberger Beispiel die Reformation offiziell einzuführen. Für seine Hofkasse hatte dies einen durchaus erfreulichen Nebenaspekt, durfte er doch erwarten, dass ihm mit der zwangsweise betriebenen Auflösung der Stadtklöster deren reiche Einkünfte zufielen.
Gleiches galt offenbar auch für das Michaelsstift. Bereits 1544 begann die Veräußerung der Stiftshäuser
an verschiedene Edelleute, wie Oskar Trost überliefert (Trost 1961). Bald ließ der Markgraf die Stiftspfründen nicht mehr besetzen. Bis 1559 scheint die Einziehung des Stiftsbesitzes zugunsten des Markgrafen abgeschlossen gewesen zu sein (Ohnemus 1961, S. 182). Die gesamte Schloßkirche büßte mit der Reformation ihre liturgische Funktion fast völlig ein; ihre zahlreichen urkundlich bezeugten Altäre verschwanden. Sicher ist, dass spätestens 1579 an den bisherigen Platz des Hochaltars das große Grabmonument Karls II. trat. Der ehemalige Stiftschor war damit endgültig zur privaten fürstlichen Grabkapelle umgewandelt, das Michaelsstift nach etwa einhundert Jahren Existenz erloschen.
Dazu eine Nebenbemerkung: Blickt die lokale Geschichtsschreibung mit einigem Stolz auf die Reformation zurück, so wird dabei oft unterschlagen, mit welchen Verlusten an urbaner kultureller Überlieferung dieses Ereignis einherging: Der lokale Vollzug der Reformation artete zu einem regelrechten Bildersturm aus und beraubte die Stadt zahlreicher mittelalterlicher Bildwerke, denen aus heutiger Sicht wohl hoher Kunstwert zukommen würde (Pfrommer 1986, S. 12-16). Die neuen Einnahmequellen des Markgrafen aus dem ehemaligen Stifts- und Klosterbesitz dürften im übrigen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistetet haben, den kostspieligen Umzug der Residenz nach Durlach zu finanzieren. Die Reformation trug damit indirekt nicht unerheblich zu Pforzheims ökonomischen und kulturellen Niedergang bei.
Einer der letzten, der die Stiftsbibliothek noch am alten Platz besuchte, war 1565 der Theologe und Historiker Heinrich Pantaleon (Preisendanz 1955, S. 53). In jenem Jahr verlegte Karl II. die Hofhaltung nach Durlach, wo die Bibliothek, oder jedenfalls der ansehnlichste Teil von ihr, im markgräflichen Schloss einen neuen Standort fand, nun bezeichnet als „Bibliothek Reuchlins aus Pforzheim” (Preisendanz
1955, ebda.). Ein Teil dieser Durlacher Hofbibliothek ging bei der Brandschatzung Durlachs im Dreißigjährigen Krieg unter; ein Schicksal, dass ihr wohl auch bei einem Verbleib in Pforzheim nicht
erspart geblieben wäre. Der Restbestand wurde 1674 in den markgräflichen Badener Hof in Basel
gerettet und später in die Karlsruher Hofbibliothek eingegliedert, die Vorläuferin der heutigen Badischen Landesbibliothek. 1892 erschien der erste wissenschaftliche Katalog der verbliebenen „Codices Reuchliniani“, der für die weitere Forschung maßgeblich werden sollte (Brambach 1891).
Die Erinnerung an den früheren Standort der Bibliothek rückte in den nachfolgenden Jahrhunderten
ins Zentrum der auf Pforzheim bezogenen Reuchlintradition: Aus dem Stiftskolleg wurde das Reuchlinkolleg. Ein früher Beleg dafür ist der Bildkommentar zu Matthäus Merians berühmt gewordener Stadtansicht des frühen 17. Jahrhunderts. „Johannes Capnio ist von hinnen gebürtig gewesen“,
lautet der entsprechende Passus von 1643, „der auch in seinem Testament seine Hebräisch und Griechische Bücher der Schulen allhie vermacht / daß man sie da in der Kirchen verwahren /
und von jederman öffentlich daselbst besichtiget werden sollen.“ (Merian/Zeiller 1643). Von der Schenkung an das Kolleg („collegio per testamentum legavit“) berichtete auch der Durlacher Hofprediger Johann Heinrich May 1677 in seiner lateinisch abgefassten Reuchlin-Biografie (May
1677, S. 523). Er fügte eine Liste mit Handschriften und Drucken aus dem Besitz Reuchlins hinzu und betonte, dass Juden und Christen gleichermaßen zu ihrem Studium zugelassen sein sollten (May 1687,
S. 524). Die Vorstellung vom Bibliotheksraum als „Hörsaal“, wo Reuchlin Vorlesungen gehalten haben soll, scheint demgegenüber eine Legendenbildung der Barockzeit zu sein, taucht doch die Formulierung „Auditorium Reuchlinianum“ erst 1759 in den „Memorabilia Phorcensia“ des G. B. Deimling auf (Vischer 1911, S. 71).
Als ehrwürdige Zeugen der Reuchlinzeit sah man außerdem zwei antiquarische Bibliotheksmöbel an, die Siegmund Friedrich Gehres in seiner Stadtchronik von 1792 erwähnt: „Seine beträchtliche Bibliothek vermachte Reuchlin dem Stift St. Michael in seiner Vaterstadt Pforzheim, mit der ausdrücklichen Verordnung, daß sie in der dasigen Stifts- oder sogenannten Schloßkirche, in deren obern Chor er eine Zeitlang sein Auditorium gehabt, und wo noch jetzt sein Katheder und Bücherkasten zu sehen ist, zu jedermanns freyem Gebrauch aufbewahrt werden sollte.“ (Gehres 1792, S. 83). In dem Bibliotheksraum standen also noch ein “Katheder und Bücherkasten“, in entleertem Zustand, versteht sich. Eine ähnliche Situation mit leeren Bücherkästen ist heute noch in der ehemaligen spätgotischen Bibliothek des Klosters Hirsau zu finden, im Obergeschoss der dortigen Marienkapelle. Unter welchen Umständen die Pforzheimer Ausstattung verschwand, kann man immerhin vermuten: Während der Napoleonischen Kriege war die ungeheizte und im Winter bitterkalte Schloßkirche Krankenlager für Soldaten der russischen Armee… Bald danach, in der 1816 erschienenen Stadtgeschichte des Arztes Johann Christian Roller, erfährt man: „Von der Orgel geht man in das Museum des großen Reuchlin, wohin dieser Pforzheimer Gelehrte seine Bibliothek gestiftet hatte, (…) und wo noch vor kurzem sein Katheder und sein Bücherkasten zu sehen war. Jetzt befinden sich in demselben die BlasBälge zur neuen, im Jahr 1810 erbauten, Orgel.“ (Roller 1816, S. 15)
Roller verdanken wir die Überlieferung der Bezeichnung „Museum“, die auf eine emotional an diesen
Ort gebundene Reuchlin-Rezeption schließen lässt. In diesem Zusammenhang sind vermutlich die Namen und Jahreszahlen zu sehen, die Besucher im späten 18. Jahrhundert neben dem Westportal der Schloßkirche einritzten. Die Sitte oder Unsitte früher bürgerlicher Bildungstouristen, sich am Zielort mit Grafittis zu verewigen, ist vielfach bezeugt. Kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe führte den Kreis der gebildeten Bewunderer an, die in Reuchlin einen Vorboten und Geistesverwandten der bürgerlichen Aufklärung sahen: „Reuchlin! Wer will sich ihm vergleichen, / Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen!…“ (Goethe, Zahme Xenien, 1827). Ähnlich äußerten sich etwas später Friedrich Schlegel, Ferdinand Lasalle und Heinrich Heine (Schwab 1998, S. 8).
Die „Blasbälge“ der Orgel allerdings dürften das Interesse der Bildungstouristen kaum mehr befriedigt haben. Stattdessen fand Reuchlin mit einer (vermeintlichen) Porträtbüste 1835 seinen Platz in der Walhalla bei Regensburg, dem bayerischen Ehrentempel der berühmtesten deutschen Gelehrten. Die Erinnerungslücke, die in seiner Heimatstadt klaffte, machte Johann Georg Friedrich Pflüger 1862 in seiner grundlegenden Stadtgeschichte bewusst: Der „sogenannte Reuchlin´sche Hörsaal in der Schloßkirche“, so formulierte er, sei „das einzige Denkmal, das seine Vaterstadt noch aufzuweisen hat“ (Pflüger 1862, S. 169). Pflüger war es, der damit dem modernen Denkmalverständnis den Boden bereitete und zum Gewährsmann der lokalen Reuchlin-Traditionspflege wurde. Seine Sicht fand auch Eingang in die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienene erste ausführliche kunsthistorische Untersuchung und Würdigung der Schloßkirche (Vischer 1911), welcher 1924 eine Darstellung der „Bibliothek Reuchlins in Pforzheim“ folgte (Christ 1924).
Im Jahr 1922 beging die Stadt feierlich den 400. Todestag ihres großen Sohnes. Fast zeitgleich wurde in der ehemaligen Einnehmerei nördlich der Schloßkirche das Pforzheimer Stadtmuseum eröffnet, dessen Bezeichnung als „Reuchlinmuseum“ den alten Namen auf eine neue Institution und einen neuen Ort übertrug. Alfons Kern, der verdienstvolle Gründer und Leiter des Museums, richtete im Museum einen „Gedächtnisraum“ für Johannes Reuchlin ein. Dieser Gedächtnisraum sollte die Museumsbesucher
„in das Zeitalter des Humanismus zurück[führen], in dem er (…) mit den vielen Schriften, Dokumenten und Bildnissen dieses Gelehrten vertraut macht, nach dem das Museum benannt ist“ (Kern 1925, S. 231-232). Den architektonischen Rahmen bildete ab 1932 ein gotischer Schmuckerker aus der Auer Vorstadt. Der bescheidene Raum konnte freilich mit dem nahegelegenen Melanchthonhaus
in Bretten nicht konkurrieren. Dort war am Platz des einstigen Geburtshauses in den Jahren 1897-1900 eine ansehnliche „Gedächtnishalle“ im historistischen Stil mit Museum und Bibliothek entstanden. Doch schien wenigstens ein Anfang gemacht, der Reuchlintradition in Pforzheim wieder einen Ort zu geben.
Das Reuchlinkolleg selbst allerdings blieb von diesen Bestrebungen unberührt. Im Obergeschoss hingen inzwischen einige Ölbilder des 18. Jahrhunderts mit Darstellungen der Parade-Aufbahrung von Mitgliedern der Fürstenfamilie. (Vischer 1911, S. 72; Kunstdenkmäler 1939, S. 184) Mit Anbruch des „Dritten Reiches“ erschien es ohnehin nicht mehr opportun, die Aufmerksamkeit auf einen Gelehrten zu richten,
der mit seinem guten Namen gegen Bücherverbrennungen und für Toleranz gegenüber der jüdischen
Kultur eingetreten war.
Die Dokumentation des Reuchlinkollegs
Dem 1939 publizierten Denkmal-Inventar der Stadt Pforzheim ist die genaue Dokumentation des Baubestands zu verdanken. Die Unterlagen dazu haben sich durch einen Glücksfall erhalten. Sie fanden sich im Nachlass des Pforzheimer Architekten Theo Preckel (jun.), der in den Jahren 1934/35 vom badischen Denkmalamt in Karlsruhe mit der wissenschaftlichen Aufnahme des Baubestandes beauftragt war, und gelangten in die archivalische Obhut der Stadt.
Zu dieser Dokumentation gehören die einzigen erhaltenen Fotografien der Innenräume des Reuchlinkollegs, aufgenommen rund zehn Jahre vor der Kriegszerstörung. Eine davon ist hier erstmals publiziert. Sakristei und Bibliothek lassen sich auf den Fotos nach Form und Größe ihrer Fenster unschwer unterscheiden und zeigen jeweils eine Ausstattung mit Steinplattenboden und schmucklos gekalkten Wänden. Knapp über dem Boden stiegen die schlanken Rippen der spätgotischen Gewölbe auf, zusammengeführt in zierlichen figürlichen Schlusssteinen.
Ebenfalls erhalten sind die Einzelskizzen der Bauaufnahme, die bis hin zu den Gewändeprofilen den Bestand maßgenau verzeichnen. Diese Unterlagen liefern eine brauchbare Grundlage für eine getreue Wiederherstellung des Anbaus.
Reuchlinkolleg, Fotografie des Innenraums (Obergeschoss), um 1934/35
Reuchlinkolleg, Detail der Fenstergewände, Bauaufnahme von Th. Preckel, 1934/35
Überlegungen zum Wiederaufbau – Der Entwurf von Bernhard Hirche
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begründete die Stadt Pforzheim mit der feierlichen Verleihung des „Reuchlinpreises“ im Reuchlinjahr 1955 eine neue Tradition der Wissenschaftspflege. Begleitend erschien eine Festschrift, die der Reuchlinforschung ein Diskussionsforum bot. In einem ausführlichen Beitrag stellte Karl Preisendanz Entstehungsgeschichte, Umfang, Bedeutung und Verbleib von Reuchlins Büchersammlung dar (Preisendanz 1955). Als permanente Einrichtung entstand die Pforzheimer Reuchlin-Gesellschaft unter Leitung von Kurt Hannemann und Erich Rex.
Das Reuchlinjahr 1955 bot Anlass, den Blick auch auf die kriegszerstörte „Reuchlinkammer“ zu richten. Sie sei, so betonte der damalige Kulturamtsleiter Hermann Wahl, “die einzige auf unsere Tage gekommene Reuchlin-Stätte“. Mit Blick in die Zukunft fügte er hoffnungsvoll hinzu: „Da das Gebäude Strebepfeiler des Chores vertrat und die südliche Fürstengruft überdeckte, wird das Gebäude wohl wieder aufgebaut werden müssen. Ob dies in der alten Form geschehen kann, läßt sich heute noch nicht absehen.“ (Wahl 1955)
45 Jahre später: Zwei vermauerte Türen führen noch immer vom Stiftschor ins Nichts. Aus dem Ort ist ein Un-Ort geworden: Ein offener, unwirtlicher Vorbau aus drei Strebebögen schützt mit einem Notdach die Südgruft. An der äußeren Chorwand markieren die Reste von Putz, Türöffnung und Gewölbeansätzen den früheren Ort des Reuchlinkollegs. Unrat und Taubenkot bedecken den Boden, und hohe Gitter können den trostlosen Eindruck nur wenig mindern. Kein Ort zum Aufsuchen, allenfalls ein Rückzugsort für lichtscheue Gestalten.
Seit Mitte der 1980er Jahre hat das Kulturamt der Stadt Pforzheim wiederholt Überlegungen für einen Wiederaufbau des Reuchlinkollegs in die Diskussion gebracht. 1993 gründeten Bürger der Stadt den Verein Freunde der Schloßkirche Pforzheim e. V., der sich ausdrücklich auch den Wiederaufbau des Reuchlinkollegs auf die Fahnen geschrieben hat. Der Verein unter seinem rührigen Vorsitzenden Jürgen Wahner wirbt seit 1999 mit unterschiedlichen Aktionen wie der Präsentation des Wiederaufbau-Modells im Rathaus, Konzerten in der Schloßkirche und Verkauf von Themenuhren in der Öffentlichkeit für dieses Ziel.
Das Modell für den Wiederaufbau wurde in einem längeren Diskussionsprozess entwickelt. Baudezernat und Denkmalpflege der Stadt Pforzheim schalteten hierzu in Abstimmung mit dem Staatlichen Hochbauamt als erfahrenen Partner den Hamburger Kirchenbauarchitekten Prof. Bernhard Hirche ein, der mehrere Varianten skizzenhaft untersuchte. Die zunächst favorisierte Einfügung einer neuen Raumhülle zwischen
den vorhandenen Strebepfeilern der 50er Jahre führte wegen verschiedener Zwänge zu keiner gestalterisch akzeptablen Lösung. Andererseits schied auch eine exakte „Rekonstruktion“ mitsamt den Gewölben
aus, da diese mit der beabsichtigten Einrichtung einer Reuchlin-Ausstellung kaum vereinbar sein würde
und auch auf denkmalpflegerische Vorbehalte stieß.
Das vom Architekten vorgelegte Konzept eines „Dialogs zwischen Alt und Neu“ (Hirche 1999) sieht nunmehr vor, den Baukörper mit seinen Strebepfeilern, Fenstern, Putzwänden und Pultdach entsprechend den Bauaufmaßplänen von 1934/35 als äußere Raumschale nachzubilden. Eine schmale, verglaste Fuge zwischen Chorwand und erneuertem Anbau deutet dezent auf den Wiederaufbau hin und lenkt zusätzliches Licht in den Innenraum. An die Stelle der früheren zwei gewölbten Geschosse tritt eine neue Innenarchitektur mit vier eingehängten Galerie-Ebenen, ein „über die gesamte Höhe gehendes Raumvolumen“ (Hirche 1999), intern durch transparente Stahltreppen verbunden. Die Chorwand, die anschauliche Spuren der Kriegszerstörung trägt, bleibt in ganzer Höhe unberührt. Die Anbindung an den Stiftschor erfolgt am historischen Punkt über die beiden wieder zu öffnenden Türen, wobei der Zugang im Erdgeschoss dem Publikumsverkehr dienen soll, der Zugang im Obergeschoss über den Lettner hingegen nicht tatsächlich benutzt zu werden braucht. Je nach Art des Ausstellungskonzepts können Wandflächen und Geländer mit Vitrinen, Infotafeln und Exponaten bestückt werden. Insgesamt wird eine bis zu 170 qm große Nutz- bzw. Ausstellungsfläche zu Verfügung stehen.
Hirches Konzept erfüllt sowohl die Anforderungen der geplanten Nutzung als Ausstellungsraum als auch die denkmalpflegerischen Grundsätze, unter denen nach gegenwärtiger fachlicher Auffassung ein Wiederaufbau glaubwürdig vertretbar erscheint (Kiesow 2000, S. 154). Die Nachbildung der äußeren Raumschale am alten Ort auf der Grundlage einer Baudokumentation und mit tradierten Baustoffen soll
als Reverenz an das gotische Bauwerk den fehlenden Anbau des Stiftschors in unaufdringlicher Weise ergänzen und die Wiedernutzung des Genius loci ermöglichen. Die neue Innenarchitektur verdeutlicht die Tatsache des Wiederaufbaus und fügt der Schloßkirche eine weitere zeitliche Bauschicht hinzu. Sie setzt
in dieser Beziehung die denkmalpflegerische Tradition im Umgang mit der Kirchenruine in den 1950er Jahren fort, als man den Wiederaufbau durch eine zeitgenössische künstlerische Kirchenausstattung ergänzte. Ganz bewusst sollen im übrigen die von der Kriegszerstörung verursachten Wunden unange-
tastet bleiben: Gewölbeanfänger, die ins Leere zeigen, abgerissene Putze, nackte Mauersteine. Sie
gehören zu den wenigen mahnenden Kriegsruinen im Stadtbild. Zukünftig können Besucher die Tatsache der Kriegszerstörung im Wortsinn „begreifen“, wenn sie von einer Ebene zur anderen die Treppen hinauf- oder hinuntersteigen.
Präsentiert sich der Innenraum des ehemaligen Stiftschors mit den dominierenden Wanddenkmälern
derzeit ausschließlich als Grablege des badischen Fürstenhauses, so wird das Reuchlinkolleg seiner ursprünglichen Geschichte wieder Raum geben, die mit dem Michaelsstift, den Ursprüngen der badischen Landesbibliothek und der Schenkung Reuchlins verbunden war. Der Wiederaufbau dient damit dem Ziel, eine verschüttete Geschichtsdimension neu zu erschließen, ohne das Faktum der Kriegszerstörung auszublenden.
Vorentwurf zur Wiederherstellung des Reuchlinkollegs, Prof. Bernhard Hirche Dipl.Ing. BDA, 1999,
Quer- und Längsschnitt mit Anschluss an die vorhandenen Bauteile des Stiftschors
Ausblick
Angesichts des eklatanten Verlustes an historischen Quellen drängt sich die kritische Frage auf:
Was soll denn in einem wiederaufgebauten Reuchlinkolleg stattfinden?
Dazu hier einige allgemeine Überlegungen und Hinweise:
Neben der Zielsetzung, den Raum als solchen überhaupt wieder anschaulich und betretbar zu machen, spielt die Anknüpfung an die Tradition der „Reuchlin-Gedenkstätte“ eine zentrale Rolle. Zeitgemäß übersetzt, wäre „Gedenkstätte“ als Informationszentrum zu verstehen, als Bildungseinrichtung für Pforzheim-Besucher, Bildungstouristen und Schulklassen. Eine räumliche und personelle Verknüpfung
mit der bestehenden Reuchlin-Forschungsstelle wäre denkbar.
In diesem Sinne steht die Idee einer Dauerausstellung zum Thema “Pforzheim und der südwestdeutsche Humanismus” im Vordergrund, die über die Person Reuchlins hinaus die epochale Bedeutung des Humanismus für das moderne Europa und den Beitrag Pforzheims dazu in den Mittelpunkt stellt. Eine Wurzel, die lokale Lateinschule, wurde 1997 vom Stadtarchiv Pforzheim aufgearbeitet und mit begleitender Ausstellung publiziert (Kremer 1997).
Faksimiles von Handschriften und Drucken könnten die Lücke fehlender „Reuchliniana“ füllen und
eine anschauliche Vorstellung von der früheren Kirchenbibliothek vermitteln. Der Einsatz digitaler
Technik böte sich an, um die Besucher über Monitore in den Schriften „blättern“ zu lassen und damit Anreize zur selbstständigen „Entdeckung“ zu geben.
Simple Leitfragen sollte das Ausstellungskonzept informativ aufgreifen und attraktiv beantworten:
Was hat Reuchlin mit Pforzheim zu tun?
Was hat Reuchlin mit der Schloßkirche zu tun?
Was ist über das Michaelsstift und die Lateinschule bekannt?
Wer waren Reuchlins gelehrte Freunde?
Welche Bedeutung hatte Pforzheim für Humanismus und Reformation?
Was verbindet das Reuchlinkolleg mit der heutigen Badischen Landesbibliothek?
Rechtzeitig sind außerdem einzuplanen: die Verkaufsecke für Postkarten und Bücher, die Medien-Ecke
mit computergestützten Bildschirm-Informationen, die Druck-Ecke für Jugendliche und die Studien-Ecke mit aktuellen themenbezogenen Büchern, die Präsentation der Reuchlin-Forschungsstelle. Wie das Innenleben des Reuchlinkollegs schließlich konkret aussehen könnte, bedarf der fachkundigen museumsdidaktischen Vorbereitung und der beratenden Begleitung durch ein Gremium von Fachleuten.
Dr. Christoph Timm
Anmerkung der Internetredaktion:
2005 hat sich Reuchlins Geburtstag zum 550. Mal gejährt. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn das Reuchlinkolleg zum Jahr 2005 fertig gewesen wäre …
Die “Freunde der Schlosskirche Pforzheim e.V.” und die “Löbliche Singergesellschaft von 1501 Pforzheim”, die sich beide für die Wiedererrichtung des Reuchlinkollegs stark gemacht haben, sind jedoch sehr zufrieden damit, dass das Reuchlinkolleg aufgebaut wird.
Seit unser Autor, Dr. Christoph Timm, (Untere Denkmalsbehörde und stellvertretender Vorsitzender “Freunde der Schlosskirche e.V.”) seine Vision zur Wiedererrichtung des Reuchlinkollegs im Jahr 2000 zu Papier gebracht hat, hat sich einiges in der planerischen Weiterentwicklung im Detail geändert. Zwischenzeitlich ist das Reuchlinkolleg im Baustadium und wird im Jahr 2008 hergestellt sein.
Die sogenannte “Reuchlinkammer” vor ihrer Zerstörung am 23. Februar 1945 und die Computeranimationen des “Reuchlinkollegs” von Architekt Prof. Brenhard Hirche, Hamburg, der mit dem Neuaufbau des kriegszerstörten Anbaus an die Schloss- und Stiftskirche St. Michael beauftragt ist.
Allen, die sich für Arbeit, Aufgaben und Ziele des Vereins “Freunde der Schlosskirche e.V.” interessieren, empfehlen wir zur weiteren Information folgenden Internet-Link:
www.schlosskirche-pforzheim.de
Literatur:
W. Brambach: Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe, Bd. I (Karlsruhe 1891, Neudruck Wiesbaden 1977).
Dieter Brosius: Papst Pius II. und Markgraf Karl I. von Baden. Ein Nachtrag aus den päpstlichen Registern.
In: Freiburger Diozesan Archiv 2 (1972).
Buch – Leser – Bibliothek. Festschrift der Badischen Landesbibliothek zum Neubau (Karlsruhe 1992).
Karl Christ: Die Bibliothek Reuchlins in Pforzheim (Leipzig 1924, 52. Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen).
Gerhard Fouquet: St. Michael in Pforzheim. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien zu einer Stiftskirche der Markgrafschaft Baden. In: Hans-Peter Becht (Hg.): Pforzheim im Mittelalter (Pforzheimer Geschichtsblätter Bd. 6, 1983).
Siegmund Friedrich Gehres: Pforzheims kleine Chronik (Memmingen 1792), S. 83/84.
Bernhard Hirche: Vorentwurf zur Wiederherstellung des Reuchlinkollegs in Pforzheim (Hamburg 1999,
unveröffentlichtes Typoskript).
Immanuel Kammerer/ Georg Kopp: Die Nikolaikirche in Isny und ihre Bibliothek (Isny 1949).
Überarbeitete Neuauflage: Schnell-Kunstführer Nr. 1045 (1976).
Alfons Kern: Das Reuchlinmuseum zu Pforzheim. In: Der Enz- und Pfinzgau. Hrsg. von Hermann Busse
(Karlsruhe 1925), S. 230-234.
Gottfried Kiesow: Denkmalpflege in Deutschland (Stuttgart, 4. Auflage 2000).
Mathias Köhler: Evangelische Kirche Niefern. Schnell-Kunstführer Nr. 2196 (1996).
Mathias Köhler/ Christoph Timm: Evangelische Schloß- und Stiftskirche St. Michael Pforzheim. Schnell-
Kunstführer Nr. 2215 (1996).
Manfred Krebs (Hg.): Johannes Reuchlin 1455-1522. Festgabe seiner Vaterstadt Pforzheim zur 500. Wiederkehr
seines Geburtstags (Pforzheim 1955, Nachdruck Sigmaringen 1994).
Hans-Jürgen Kremer: „Lesen, Exercieren, Examinieren“. Die Geschichte der Pforzheimer Lateinschule
(Ubstadt –Weiher 1997, Materialien zur Pforzheimer Stadtgeschichte Bd. 11).
Emil Lacroix/ Peter Hirschfeld/ Wilhelm Paeseler: Die Kunstdenkmäler der Stadt Pforzheim (Karlsruhe 1939,
Nachdruck Bad Liebenzell 1983).
Luther und die Reformation am Oberrhein. Ausstellungskatalog (Karlsruhe 1983).
Johann Heinrich May: Vita Jo. Reuchlini Phorcensis (Durlach 1687).
Philipp Melanchthon: Oratio continens historiam Johannes Capnionis Phorcensis (Wittenberg 1552,
Reprint New York 1963).
Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Ausstellungskatalog, hrsg. v. Stefan Rhein (Karlsruhe 1997).
Matthäus Merian/ Martin Zeiller: Topographia Sueviae (Frankfurt/Main 1643).
Johann Georg Friedrich Pflüger: Geschichte der Stadt Pforzheim (Pforzheim 1862, Nachdruck Pforzheim 1989).
Erwin Ohnemus: Besitzungen und Rechte von Klöstern auf Pforzheimer Gemarkung. In: Pforzheimer Geschichtsblätter I (1961), S. 159 ff. (zum Michaelsstift: S. 180-182).
Gerda Pfrommer (Hg.): Keine Nonne für Luther. Die Reformationschronik der Eva Magdalena Neyler (Pforzheim 1986).
Karl Preisendanz: Die Bibliothek Johannes Reuchlins. In: Krebs, vgl. oben.
Johann Christian Roller: Geschichte und Beschreibung der Stadt Pforzheim (Heidelberg 1816).
– Gleichlautend bei Kolb: Historisch-statistisch-topographisches Lexikon von dem Großherzogtum Baden (1816),
Bd. 3, S. 58.
Heinz Scheible: Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite. In: Hans-Peter Becht (Hg.): Pforzheim in der frühen Neuzeit (Pforzheimer Geschichtsblätter Bd. 7, 1989).
Olaf Schulze: Institutionen der Krankenpflege. In: Pforzheim zur Zeit der Pest (Pforzheim 1993), S. 74-131,
zum Thema Bibliothek S. 83-85.
Hans-Rüdiger Schwab: Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist. Ein biographisches Lesebuch
(München 1998).
Anneliese Seeliger-Zeiss: Studien zur Architektur der Spätgotik in Hirsau. In: Hirsau St. Peter und Paul 1091-1991 (Stuttgart 1991), Teil I, S. 265 ff.
Stundenbuch des Markgrafen Christoph I. von Baden (=Codex Durlach I). Faksimile-Ausgabe und Kommentarband (Karlsruhe 1978).
Oskar Trost: Die Adelssitze im alten Pforzheim. In: Pforzheimer Geschichtsblätter I (1961), S. 98, 100-102.
Erwin Vischer: Die Schloß-(Stifts-)Kirche zum Heiligen Michael in Pforzheim (Straßburg 1911, Studien zur deutschen Kunstgeschichte H. 141), S. 70-72.
Hermann Wahl: Reuchlin-Stätten in Pforzheim. In: Baden – Monografie einer Landschaft, 7 (1955),
Ausgabe 1 (Pforzheim im Reuchlinjahr 1955), S. 10-13, Zitat S. 12/13.
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