Laudatio

Dr. Ulrike Plate,
Leiterin des Referats Fachliche Grundlagen, Inventarisation, Bauforschung
Regierungspräsidium Stuttgart, Landesamt für Denkmalpflege

anlässlich der Verleihung des Eberhard-Gothein-Preises für Stadtgeschichte 2009
am Sonntag, 29. März 2009

 

Wir sind heute hier zusammen gekommen, um den Eberhard-Gothein-Preis für herausragende
Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung der Pforzheimer Stadtgeschichte zu vergeben.
Wer Eberhard Gothein war, haben wir eben schon gehört.
Auf einige Punkte möchte ich hier noch einmal zu sprechen kommen.

Prof. Eberhard Gothein lebte von 1853 bis 1923, er war Nationalökonom, Kultur- und Wirtschafts-
historiker. An den Universitäten Breslau und Heidelberg hatte er mit den Schwerpunkten Geschichte
und Kunstgeschichte studiert und hatte dann fast 20 Jahre an der Universität Heidelberg den Lehrstuhl
für Nationalökonomie inne – ein ungewöhnliche, für Gothein aber bezeichnende Kombination.
Gotheins Vorstellung von „Geschichte“ war in einer für seine Zeit höchst ungewöhnlichen Weise umfassend; während andere Historiker seiner Epoche unter „Geschichte“ fast nur „politische Geschichte“ verstanden, vertrat er einen Ansatz, der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte in einer sehr
modernen Weise verknüpft. Diese Auffassung spürt man in den Titeln seiner Werke wie:

Bilder aus der Geschichte des Handwerks in Baden 1885.
Oder
Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften 1892.

In Zusammenhang mit dem heutigen Tag ist sein Buch
Pforzheims Vergangenheit, ein Beitrag zur deutschen Städte- und Gewerbegeschichte von1889 zu
nennen, die erste im engeren Sinne wissenschaftliche stadtgeschichtliche Abhandlung zu Pforzheim –
und Anlass, dem Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung der Pforzheimer Stadtgeschichte seinen Namen zu geben.

Ganz im Sinne Gotheins wird der nach ihm benannte Preis nun gleich beim ersten Mal an einen Wissenschaftler und für ein Werk vergeben, die keineswegs in das gängige Schema klassischer Stadtgeschichtsforschung passen. Nicht Faszikelnummern und Urkundenbücher sind hier der Ausgangspunkt neuer Erkenntnisse, sondern Kulturdenkmale. Kulturdenkmale aus über 2000 Jahren Siedlungsgeschichte.

Die Würdigung eines solchen Werkes würde man eher in einer Stadt mit hohem Altbaubestand erwarten, etwa in Konstanz, Ravensburg, Schwäbisch Hall oder Ladenburg.
Aber doch nicht in einer kriegszerstörten Stadt wie Pforzheim. Überhaupt erwartet niemand, dass ausgerechnet Pforzheim ein mehrbändiges Werk über seine Kulturdenkmale angemessen füllen kann.
Doch vielleicht ermöglicht gerade das Trauma dieses erschütternden Verlustes eine besondere Wertschätzung für die erhaltenen Zeugnisse der Vergangenheit.

Die Denkmaltopographie Pforzheim ist in einer bundesweiten Reihe erschienen. In ihrem Umfang mit
über 1000 Seiten ist sie vergleichbar mit dem von Städten wie Wiesbaden oder Mainz oder auch
einem ganzen Landkreis, wie z.B. der Bergstraße. In BW wird selbst eine Stadt wie Esslingen mit
ca. einem Drittel des Seitenumfangs auskommen müssen.

Wie kommt es, dass eine Stadt, die einem nicht gerade als erstes einfällt, wenn es um Kulturdenkmale geht, mit einem so umfangreichen, aber auch herausragenden, kulturhistorischen Werk geehrt wird?

Da müssen wir in das Jahr 1988 zurückgehen. Damals kam ein junger Norddeutscher in diese Stadt:
Dr. Christoph Timm.
Herr Timm, in Hamburg geboren, hatte bereits während des Kunstgeschichte-Studiums erste Kontakte
zur Denkmalpflege geknüpft. Auch die Wahl seines Promotionsthemas über Gustav Oelsner, Stadtplaner
in Hamburg-Altona während der Weimarer Republik, zeigt sein architekturgeschichtliches Interesse.
Es folgten ein Stipendium am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München und verschiedene Tätigkeiten als freier Publizist, als Mitarbeiter in der Denkmal-Inventarisation Hamburg und im Bereich der Stadtbaugeschichte. Klassisch dann der Weg über ein Volontariat, das die notwendige praktische Ausbildung mit sich brachte. Die Mitarbeit am Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, dem „Dehio Hamburg“, hat sicher dazu beigetragen, dass Herr Timm seine Beschreibungen so präzise und knapp
auf den Punkt bringen kann.
Was kann einen so erfolgreichen jungen Denkmalpfleger nach Pforzheim getrieben haben?
Natürlich – werden Sie sagen: die feste Stelle – er war damals ja schon Familienvater.
Mag sein.

Oder aber, er hat sich in guter kunsthistorischer Manier über die Stadt mit dem attraktiven Stellenangebot im vorhandenen Großinventar von 1939 kundig gemacht. Dort zeichnete der Leiter der nordbadischen Denkmalpflege, Emil Lacroix, das Bild einer kunsthistorisch reichen und ehrwürdigen Stadt.
Im Reprint von 1983 bezeichnet der Oberbürgermeister Dr. Weigelt das Inventar von 1939 als
Glücksfall, da in diesem Band die Denkmale dokumentiert worden waren. Das Buch bewahrte die Erinnerung und wurde in nicht wenigen Fällen von unschätzbarem Wert für die Rekonstruktion
nach 1945.

Bis heute ist dieser Band für uns von unschätzbarem Wert, genau wie die zahlreichen anderen Inventarbände, die Kulturdenkmale unseres Landes dokumentieren. Doch nicht nur wegen des eingetretenen Verlustes, sozusagen als letzte Quelle. Auch als wichtiges Dokument wegen des
natürlichen Veränderungsprozesses. Vor allem aber auch, weil wir das Dokument einer Zeit vor
uns haben, einer Zeit mit Ihren Wertvorstellungen.

Was wurde als Denkmal angesehen, worin bestand sein Wert? Hier spiegelt sich für den Denkmalpfleger die eigene Wissenschaftsgeschichte, für die Bevölkerung aber auch ein Bild über das, was sich im Bewusstsein geändert hat. Dies wird insbesondere im unmittelbaren Vergleich mit dem Buch deutlich,
das heute im Mittelpunkt des Interesses steht.

Auf den ersten Blick fallen die Veränderungen rein technischer Art auf, viele bunte Bilder, ein abwechslungsreiches, qualitätvolles Layout, Hochglanzdruck, und natürlich der Umfang.

Doch viel bedeutender als die äußerlichen Merkmale ist der Unterschied im Inhalt. Emil Lacroix
widmete 1939 der Darstellung der Stadtgeschichte knapp 30 Seiten, beginnend bei den Römern, incl.
Ur- und frühgeschichtlicher Funde, Siegel und Münzen. Er endet interessanter Weise mit den Sätzen:
„Das rapide Wachstum hat ein Stadtbild geschaffen, das der bedeutungsvollen Geschichte und der
idealen landschaftlichen Lage nicht ganz gemäß ist. Auch sind leider einige baugeschichtliche Denkmäler, die alle Schicksalsschläge der Jahrhunderte überdauert hatten, durch diese Entwicklung beseitigt worden.“
Im insgesamt 440 Seiten umfassenden Werk folgen die Beschreibung der Stadtanlage und der Stadtbefestigung. Dann kirchliche Bauten, vier an der Zahl, darunter die Schloss- und Stiftskirche
St. Michael mit ihrer Ausstattung auf über 100 Seiten. Dann wird über abgegangene kirchliche Bauten berichtet, bevor die Profanbauten, vornan das Schloss, auf weiteren knapp 100 Seiten beschrieben werden. Die Ortsteile Brötzingen, Dillstein und Weißenstein werden auf gerade mal 15 Seiten gewürdigt. Lobenswert neben der Zusammenstellung von Stadtplänen, Ansichten, Schriftquellen und Literatur ist ein Künstler- und Handwerkerregister.

Warum erläutere ich das so ausführlich?

Ein Vergleich mit der Denkmaltopographie zeigt, wie sehr sich der Blick auf die Denkmale geändert hat.
Es beginnt schon bei der Berücksichtigung des Naturraums. Die Erkenntnis, wie wichtig Boden- und Landschaftsverhältnisse für Siedlungs- und Wirtschaftsformen sind. Die Würdigung der Stadt, dabei
immer wieder die Frage nach dem „Warum?“. Wer waren die handelnden Personen, was waren ihre Motive, wo lagen die Möglichkeiten. Wertvoll ist auch, dass die Traumatisierung der Stadt durch die Zerstörung thematisiert wird. Schade ist vielleicht, dass die letzten 20 Jahre in dieser Darstellung
ausgespart blieben.

Der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt eine andere, ganz wesentliche Veränderung. Die Gliederung folgt
nicht mehr einer kunsthistorischen Anordnung von Stadtanlage- Kirchen – öffentliche Profanbauten – Privatbauten – Kunstwerke. Nein, das Buch folgt einer topographischen Gliederung, Stadträume werden beschrieben, innerhalb derer zur leichteren Orientierung eine alphabetische Anordnung erfolgte. Die Beigabe umfangreichen Kartenmaterials mit den kartierten Denkmalen erleichtert es, die Zusammenhänge zu erkennen, eine räumliche Vorstellung von der Stadt zu entwickeln. Dazu tragen auch Straßen- und Platzbeschreibungen bei.

Von besonderem Wert ist natürlich die Darstellung der Kulturdenkmale an sich. Schon alleine die Erkenntnis, was wir heute als Kulturdenkmal ansehen, an dem aus wissenschaftlichen künstlerischen
oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Erhaltungsinteresse besteht – so die gesetzliche Formulierung.
Bauten der Nachkriegszeit z. B., wie der Pforzheimer Bahnhof, sind nicht nur in Pforzheim ein Kulturdenkmal – nach dem Motto, die haben ja nichts altes mehr – sondern längst Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Wertschätzung in ihrer künstlerischen Qualität, in ihrer technischen Konstruktion und ihrer Funktionalität. Hier ist natürlich auf die Matthäuskirche von Egon Eiermann hinzuweisen, die in keiner Abhandlung über modernen Kirchenbau fehlt. Aber auch mit der Stadtkirche besitzt Pforzheim eine anspruchsvolle, künstlerisch hochwertige Kirche.

Und von wegen: die haben ja nichts Altes mehr. Eine große Leistung des Buches besteht darin, aufzuzeigen, dass gerade in der größten Not die wenigen Reste gerettet wurden und respektvoll zu einem neuen Ganzen gefügt wurden – und wie wertvoll uns heute diese historischen Orte sind. An erster Stelle ist hier natürlich die Schloss- und Stiftskirche St. Michael zu nennen. Aber auch der massive Archivbau des Schlosses, dessen Zerstörung im Bild festgehalten ist, dann die Sicherung der Ruine durch Privatinitiative, die Wiederherstellung der Gewölbe aus den geborgenen Originalteilen. Wie wertvoll ist heute ein historischer Raum wie die Landschaftsstube für eine moderne Stadt wie Pforzheim.

Auch die Darstellung archäologischer Denkmale beschränkt sich nicht auf eine Nennung von Fundstücken. Das Dokument im Boden selbst wird mit seinem Quellenwert vorgestellt. In Pforzheim gelingt dies
natürlich besonders gut am Beispiel des archäologischen Schauplatz Kappelhof. Fast 2000 Jahre Stadtgeschichte lassen sich in diesem museal aufbereiteten archäologischen „Schaufenster“ nachvollziehen. – Für die Konzeption des Museums hat sich wiederum der engagierte Stadtkonservator Herr Timm eingesetzt.

Technische Denkmale waren 1939 noch kein Gegenstand der Denkmalpflege. Hier lag der Blick noch ganz auf einer kunsthistorischen Ausrichtung. Ein Wandel in der Vorstellung vom Denkmal als Geschichtsquelle vollzog sich erst mit den sechziger Jahren des 20. Jh. Damals traten allgemein wirtschaftliche und technische, aber auch soziale Fragen stärker in den Fokus der Geschichtsforschung.
In Pforzheim sind hier stellvertretend die Gaswerkanlagen oder auch das Kohlenlagerhaus in der Oststadt genannt. Dazu passend dann auch Arbeiterwohnhäuser wie die typischen Reihenhäuschen in der Stückenhäldenstraße.

Auch die Würdigung der Bauten der Jahrhundertwende wäre 1939 noch keinem Kunsthistoriker eingefallen. Die freie Zitierweise historischer Stile wurde lange als eklektizistisch abgetan und ebenfalls
erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als künstlerische Leistung anerkannt, eng verbunden mit der Würdigung der städtebaulichen Leistung, die in der Auflösung der starren Blockrandquadrate liegt, der Schaffung neuer Platzräume und abwechslungsreicher Straßenbilder. Beispielhaft nennen möchte ich in
der Südweststadt die Friedenstraße mit der halboffenen bis offenen Bauweise und den das Straßenbild prägenden Vorgartenzonen, oder auch die Bleichstraße, wo die abwechslungsreiche Gestaltung der
Häuser auch in der geschlossenen Bauweise zu einem lebendigen Straßenbild beiträgt.

Eine besondere Leistung des Buches liegt auch in der Würdigung der Ortsteile. In vielen Städten ist es
ein nicht erfülltes Desiderat, weil alle auf die historischen Altstädte schauen. In seiner Einführung schaltet Herr Timm den Einzeldarstellungen eine allgemeine Abhandlung über die Siedlungs- und Territorialgeschichte vor, widmet sich der allgemeinen Baugeschichte und der Bedeutung der Kulturlandschaft. So gewinnt das Buch eine gewisse Autonomie gegenüber dem Band zum Stadtgebiet
im engeren Sinne.

Es ist eine unglaubliche Leistung, ein solches Buch zu erarbeiten und zu einem Punkt zu bringen, dass es tatsächlich zwischen zwei Buchdeckeln – in diesem Fall sogar vier – im Buchhandel zu erwerben ist.
Es bedarf einer unglaublich großen Energie, jedes einzelne Objekt in seiner Bedeutung zu würdigen,
dann die umfangreichen Recherchen zur Geschichte, zu den Künstlern – die Künstlermonografie allein
wäre eine Publikation wert, dann das Fotografieren, das Kartieren.
Und dann die notwendige Unterstützung zu finden. Auch im Denkmalamt ist Herr Timm vorstellig geworden – leider haben wir damals nicht angenommen, wir waren noch nicht weit genug. Oder Gott
sei Dank? Ein so opulentes Buch hätten wir uns nicht leisten dürfen. Wir hätten mit Blick auf die Reihe
viel zu viel kürzen müssen. Herr Timm hat sich trotzdem an die Grundsätze der Reihe gehalten, und so konnten wir das Buch wenigstens zum Schluss in die Reihe integrieren. Heute führen wir es als Vorbild
an –weniger im Umfang – natürlich, sondern als beispielhafte kommunale Leistung.
Der Erfolg gibt dem Werk Recht. Vom ersten Band sind schon mehr als die Hälfte der 2000 Bände verkauft – gerade im Vergleich zu anderen Denkmaltopographien eine sehr erfolgreiche Bilanz. Und
auch der zweite Band hat schon an die 500 Abnehmer gefunden. Da in diesem Band das „Who-is-who“ der baubeteiligten Künstler enthalten ist, kann ich ihn jedem an der Baugeschichte Pforzheims
Interessierten nur zur Anschaffung empfehlen.

Ich erinnere mich noch gut an die Vorstellung des ersten Bandes vor fünf Jahren in Pforzheim.
Damals hat sich Herr Timm bei seiner Familie bedankt für die große Geduld und Unterstützung.
Deshalb möchte ich sie heute in meinen Dank einschließen, den ich Herrn Timm für dieses Werk aussprechen möchte.

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