“Niemant ist berechtigt solche aufzuheben …”

Eine Pforzheimer Institution wird 500 Jahre alt –
zur Geschichte der Löblichen Singergesellschaft von 1501

Autor: Olaf Schulze, Obermeister Löbliche Singergesellschaft von 1501 Pforzheim

Veröffentlicht in
Ängste und Auswege
Bilder aus Umbruchszeiten in Pforzheim
Band I

Herausgeber:
Löbliche Singergestellschaft von 1501 Pforzheim, Berliner Straße 13, 75172 Pforzheim

“Sihe / wie fein vnd lieblich ists /
Das Brüder eintrechtig bey einander wonen.
[…]
Denn daselbs verheisst der HERR
Segen vnd Leben jmer und ewiglich.”

(Psalm 133, 1b und 3b,
in der Lutherübersetzung letzter Hand, Wittenberg 1545)

Die Anfänge der Löblichen Singergesellschaft von 1501 liegen im Dunkeln der Geschichte. Wir möchten gerne mehr erfahren über die ersten Singer, ihre Namen kennen, den Ort, an dem sie sich trafen, ihre ursprünglichen Statuten, würden gerne im ersten Bruderschaftsbuch blättern und so die Wurzeln einer Pforzheimer Institution erkunden, die nun auf eine 500jährige Geschichte zurückblicken kann, eine Geschichte, eng verbunden mit der Geschichte der Stadt. Für viele Fragen gibt es keine Antworten, die Quellen, aus denen wir sie schöpfen könnten, haben die Zeit nicht überdauert. So sind wir auf Rückschlüsse, Vermutungen und auf die Traditionskerne angewiesen, die die Gesellschaft selbst über die Generationen, über Krieg und Zerstörung bewahrte.

1993 im Rahmen der von der Singergesellschaft veranstalteten Ausstellung “Pforzheim zur Zeit der Pest. Die Löbliche Singergesellschaft von 1501” wurde das vorhandene Material zusammengetragen und in einem ausführlichen Begleitband mit zahlreichen Beiträgen publiziert, die die Grundlage für die folgenden Ausführungen bilden. Zwei zentrale Fragen waren: Herrschte 1501 in Pforzheim und in der Region die Pest? Und: Ist eine Gründung als Pestbruderschaft, wie sie die Tradition nahelegt, wahrscheinlich?

Die Schwäbische Chronik des Martin Crusius

Krisen, Sorgen und Nöte waren das tägliche Brot für viele Menschen des ausgehenden Mittelalters. Und über allem schwebte das Menetekel der Pest. Die Ängste, Gefährdungen und “Topnachrichten” der Zeitgenossen bewahrten die Chronisten, die in ihren Geschichtswerken die Ereignisse, den jeweiligen Jahren zugeordnet, chronologisch niederlegten. Manche schrieben dabei eine Weltgeschichte von Adam und Eva bis zur Gegenwart, manche blieben bescheidener bei den Ereignissen eines Fürstenhauses, eines Landes oder einer Stadt. Als Vorlagen dienten ihnen andere Chroniken, mündliche Berichte und eigene Aufzeichnungen und Erlebnisse. Nicht anders verfuhr der Tübinger Professor für Griechisch, Latein und Rhetorik, Martin Crusius (1526-1607), als er an einer Chronik der Schwaben arbeitete, natürlich in Latein, der Sprache der Gelehrten. Das “Annalium Suevicorum” erschien 1596 in einer zweibändigen Ausgabe in Frankfurt am Main und ist eine wesentliche und vor allem anschauliche Quelle für die Geschichte Südwestdeutschlands im 15. und 16. Jahrhundert. Evangelisch aus Überzeugung, unterläßt Crusius es nicht, die von seinen Vorläufern aus vorreformatorischer Zeit niedergelegten Wundergeschichten und Glaubenszeugnisse ausführlich und entsprechend kommentiert wiederzugeben (Reliquienkult, Osterspiel, Ablaßhandel). So bewahrt Crusius in einem Abstand von fast hundert Jahren die seltsamen Zeichen und Vorkommnisse, die die Schwaben um 1500 beunruhigten: Kometen, das Erscheinen von Kreuzen und Christi Marterwerkzeugen auf Kleidung und Körpern zahlreicher Menschen, Unwetter, Hunger, Krieg und Pest. Es folgt eine ausführlichere Zusammenfassung der Einträge aus den Jahren 1500 bis 1502, nach der 1733 ebenfalls in Frankfurt erschienenen Übersetzung durch Johann Jacob Moser (3. Theil, 9. Buch, 10. und 11. Kap., S. 153-158; die Kriege wurden hier außen vor gelassen):

“Im Jahr 1500 ließ sich gegen Mitternacht unter dem Zeichen des Steinbocks [Anfang Januar] 18 Tag lang ein grosser und erschröcklicher Comet sehen. […] Um diese Zeit lebte ein gewisser Meß-Pfaff, Namens Iselin, welcher seinen Reliquien- und Ablaß-Kram zu Altingen [nordwestlich von Tübingen, heute Teilort von Ammerbuch] auslegte, und unter anderem auch eine Feder aus dem Flügel des H[eiligen] Ertz-Engels Michaelis zu haben praetendirte [vorgab]: Als er sich nun in dem Wirths-Hauß wohl sein ließ, und wacker drauf schmaußte, wurden ihme bey Nacht seine Reliquien gestohlen. Morgens, da er dieses sahe, war er gleich resolut und besonnen, lieff in den Stall hinab, that Heu in seine Monstranz, und sagte, dieses solle ihm jetzt an statt der Reliquien seyn: und als die Wirthin, bey deren er seinen Einkehr hatte, darüber lachte, setzte er auch noch dieses hinzu: Ja ich will es dahin bringen, daß ihr diese Reliquien, ihr wolltet oder wolltet nicht, in öffentlicher Kirchen küssen müsset. Das soll wohl in Ewigkeit nicht geschehen, versetzte sie, und wettete gleich dessentwegen einen guten und stattlichen Schmauß mit dem Pfaffen. Als man darauf in die Kirche kam, sprach dieser Ablaß-Krämer: Sehet, ihr meine lieben Christen, das ist das Heu, auf welchem unser Herr Christus zu Bethlehem lag. Dieses hat eine solche Krafft, daß es die Pest von den Leuten abwenden kan, welche jetzo zu Tübingen und anderer Orten in Würtemberg hin und her graßiret. Es leidet auch keine Ehbrecher, Ehbrecherinnen und Huren. Als die Leute diese Predigt höreten, lieffen sie Hauffenweiß, Männer und Weiber hinzu, das Heu zu küssen, und unter andern auch die Wirthin selbst, damit sie nicht, wann sie wegbliebe, vor eine Ehbrecherin und Hure angesehen würde. Sehet, (sagte darauf der Pfaff leiß zu ihr,) ihr kommet auch, ich hab die Wette gewonnen. Dieser war also Tezels Vorläuffer. […]

Im Jahr 1501 liessen sich schwarzte, rothe, und Aschenfarbe Creutzlein an den Kleidern der Leute sehen. In dem Herzogthum Würtemberg zeigten sich an einer gewissen Jungfrau die Bilder und Merckmahle aller Instrumenten, womit Christus geplagt und gemartet worden, in erstgemeldten [ebenerwähnten] Farben. Als aber ein gewisser Müllers-Knecht bey Biberach selbst solche Zeichen mahlte, womit er die Leute in Schrecken setzte, und noch darzu einige Göttliche Stimmen gehört zu haben fälschlich praetendirte, ließ ihn Graf Andreas von Sonnenberg, nachdem sein Betrug offenbahr worden, verbrennen. […] So sind auch zu Herrenberg solche Creutzlein und andere Figuren an die Menschen gekommen. Das erste Creutz daselbst sahe Simon Lamparter, […] an Jacob Duchtlers Frauen, und Johann Reuters Tochter, Namens Barbara, den Tag vor der Kirchweyh. Eben dieser sahe auch den Tag vor Pfingsten [29.5.1501] an einem Mägdlein von 20 Jahren, Namens Dorothea, Cunrad Holtzen Tochter, (welche bey Heinrich Volzen, einem Raths-Verwandten [Mitglied] zu Kay [Kayh, heute zu Herrenberg] in Diensten war,) unterschiedliche Zeichen, als z.E. [zum Exempel; z.B.] an ihrer weissen Haube 30 gelbe Puncten, oder Mähler, eines Pfennings breit, und ein graues Creutz; an ihrem Schleyer einen langen weissen Strichen, und an dem obersten Theil desselben einen Schwamm, mit einem gelben, grünen und blauen Creutz, item [ebenso] eine Violbraune Stiege, einen gelben Hahnen, an deme man die Füß und Flügel ganz distinct und deutlich sehen konnte, eine gelbe Hand, grüne Zange, einen grauen Nagel und einen gelben Hammer, mit vielen gelben, grünen und blauen Creutzen; wie er es nicht nur selbst in einem Büchlein teutsch aufgezeichnet, sondern auch viele andere Leute gesehen haben. – In eben diesem Jahr war in gantz Würtemberg ein grosser Frucht-Mangel, dahero die nöthige Früchten anderswoher, von Straßburg und aus dem Böhmischen Wald nach Stuttgardt in grossen und weiten Tücher (“Platzen”) gebracht werden mußten. – Zu Pfortzen, Sindelfingen, Wiltperg, Calw und anderer Orten graßirte die Pest. – Zu Tübingen wurden die Leute mit einem neuen Zoll beschweret. […]

Im Jahr 1502 war an den Pfingst-Feyertagen [15./16.5.] eine solche Kälte, daß die Vögel tod von der Lufft auf die Erde herunter fielen. Im Monat Junio entstund um Zürch und Bern herum ein entsetzliches Hagel-Wetter, in welchem die gefallene Steine oder Schlossen grösser als ein Hüner-Ey waren. […] – In eben diesem Jahr am Sonntag Lätare [6.3.1502; vierter Fastensonntag] kam die Römisch Gnad gen Calw, d.i. der Ablaß-Kram. Am Sonntag nach Fronleichnams-Fest wurde zu Calw in Gegenwart des Päpstlichen Nuntii [Nuntius, päpstlicher Gesandter und Stellvertreter] und Cardinals Raimundi, der Marggräfin Elisabetha von Brandenburg und des Abtes Blasii von Hirsau die Oster-Schauspiel von Oswald Kastenmann gespielet, nach deren Vollendung gemeldter Nuntius alles anwesende und zuschauende Volck, (welches auf 10000 Personen geschätzt wurde,) geseegnet, und von denen auferlegten Bussen 240 Jahr nachgelassen [29.5.1502]. Der Abt wurde zwar darauf samt den Seinigen auf dem Rathhauß gastiret, der Cardinal aber konnte Unpäßlichkeit halber nicht dabey seyn, sondern gab nur Indulgenzen [lat. “Ablaß”], welche damalen auch denen ertheilt worden, welche die vor der Stadt-Mauer zu Calw, wo der Kirchhof [Friedhof] ist, an der Nagolt gelegene St. Marien-Capell an gewissen Tägen besuchen würden. – Eben daselbst starben in diesem Jahr gegen 500 Menschen an der Pest, welche damalen auch zu Nördlingen, und anderer Orten hin und her graßirte. – Im Winter kam der von Papst Alexander VI. geschickte Nuntius und Cardinal Rainmundus auch nach Schwäbisch-Hall mit grossen Indulgenzen, d.i. mit St. Peters Fischer-Garn, womit er Gold fischte. […] In dieser Stadt [Stuttgart] grassirte die Pest so starck, daß gegen 4000 Menschen davon aufgerafft wurden (Baselius).”