„Die Armen habt ihr immer bei euch“
Ansichten zur Armut in Pforzheim

 

Vortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung der LÖBLICHEN SINGERGESELLSCHAFT

VON 1501 PFORZHEIM am 6. Januar 2009
Singer Wolfgang Stoll, Pfarrer und Geschäftsführer Diakonisches Werk Pforzheim-Stadt

Liebe Singer! Liebe Gäste!

Armut ist kein schönes Thema.
Und wer über Armut spricht, macht sich selten beliebt.
Dennoch gibt es wichtige Gründe, sich diesem Thema zu stellen und darüber zu reden.

Alle Versuche, solch ein heikles Thema tot zu schweigen, zu verdrängen oder zu beschönigen, laufen
ins Leere, wenn sie sich nicht sogar ins Gegenteil verkehren. Denn seit gut hundert Jahren wissen wir
dank der Erkenntnisse von Sigmund Freud, dass sich nichts wirklich verdrängen lässt, sondern sich irgendwann mit umso größerer Kraft wieder bemerkbar macht und geradezu gefährlich werden kann.

Also werde ich heute zu Ihnen über Armut und insbesondere über Armut in Pforzheim sprechen.

Ich tue das als Mitglied der nicht nur altehrwürdigen sondern auch sozial engagierten Singergesellschaft,
ich tue es als Theologe und als Geschäftsführer des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche
in Pforzheim, also als Vertreter einer der beiden großen kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland.

Wann haben Sie zuletzt einen Armen gesehen?
Ich meine nicht im Fernsehen irgendwo in den Dürregebieten Afrikas oder in den Weiten Russlands.
Ich meine hier in Pforzheim.

Woran haben Sie den Armen oder die Arme erkannt?

Armut in Pforzheim – sie macht sich nicht an von Hunger aufgequollenen Bäuchen kleiner Kinder bemerkbar.

Armut in Pforzheim – das sind nicht die in Lumpen gehüllten Alten, die bettelnd im Schnee sitzen.

Armut in Pforzheim ist subtiler, vielleicht auch versteckter, weil mit mehr Scham besetzt.
Aber sie ist da. Tag für Tag. Und auch nicht nur auf den Fluren des Sozialamtes, des Caritasverbandes oder des Diakonischen Werkes.

Armut ist mitten in unserer Stadt.
Ich sehe ihre Schatten, wenn ich vom meinem Dienstsitz in der Pestalozzistraße über den Leopoldplatz
und die Fußgängerzone ins Rathaus gehe.
Ich sehe ihre Anzeichen, wenn ich mit dem Bus fahre oder durch den Benckiserpark laufe.
An einem ganz normalen Tag, zu einer ganz normalen Zeit.

Es gibt viele Gesichter der Armut

Es gibt viele Gesichter der Armut.
Es gibt die Gesichter, die noch versuchen, die Fassade des Wohlergehens aufrecht zu erhalten.
Es gibt die Unternehmer, die schon längst nichts mehr unternehmen können, weil ihre Firma vor dem Konkurs steht.
Die voller Ängste in ihrem Haus leben, das inzwischen der Bank gehört.
Die es psychisch nicht verkraften, dass sie von ihrem Wohlstand in die Armut gestürzt sind.
Sie können mir glauben, dass ich als Pfarrer mehr als einmal, in solch einem Haus war und mehr als
einmal jemand bestattet habe, der aus Verzweiflung über seinen wirtschaftlichen Zusammenbruch aus
dem Leben geschieden ist.

Es gibt die Gesichter, die mit leeren Augen ohne Hoffnung und ohne Perspektive mühsam ihren Alltag
zu meistern versuchen.

Es gibt die alten Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet oder Kinder groß gezogen haben und die
nun mit leeren Händen dastehen.
Die sich unendlich schämen, dass ausgerechnet ihnen so etwas passieren muss.

Es gibt die Frauen, die meinten, ihre große Liebe gefunden zu haben und die sich auf das Glück eines gemeinsamen Lebens freuten. Als dann ein Kind kam, war der Vater weg.
Nun stehen sie mit ihrem Kind allein da. Bekommen keine Arbeit, weil sie nicht flexibel sind, was
bedeutet, dass sie keinen bezahlbaren Betreuungsplatz für ihr Kind finden.
Sie sind „alleinerziehend“ wie man so schön sagt, oft sogar mit einem gewissen Unterton, der impliziert,
sie hätten es ja selbst so gewollt.

Es gibt die Jugendlichen, die kurz vor ihrem Hauptschulabschluss stehen und keine Lust mehr haben.
Als ich noch in der 9.Klasse der Weiherbergschule unterrichtete, habe ich oft zu meinen Schülern gesagt: „Jetzt reißt euch doch noch die paar Monate zusammen, dann habt ihr euren Abschluss!“
Was ich zur Antwort bekommen habe, war im Grunde erschütternd: „Was bringt’s?“, sagten die Schüler, „Als Hauptschüler sind wir doch sowieso der letzte Dreck. Uns will doch keiner haben!“
So war es dann auch: zwei Drittel der Klasse haben keinen Ausbildungsplatz bekommen, sondern sind
ins sogenannte „Berufsvorbereitungsjahr“ wieder an eine Schule.
So geht das dann weiter und irgendwann machen sich die Aggressionen Luft und dann geht was zu
Bruch oder dann wird getrunken bis zum Koma.

Es gibt die Kinder, die ohne Frühstück und ohne angemessene Kleidung in den Kindergarten oder in
die Schule kommen. Und die auch nichts zu Essen dabeihaben.
Sicherlich ist Armut in Pforzheim keine Kalorienfrage wie in Afrika. Aber mit Hunger wird man eben irgendwann lethargisch und lernt schlechter.
Und alle guten Ideen zur frühkindlichen Bildung und zum ungehinderten Zugang zum Bildungssystem
laufen ins Leere, wenn es für viele Kinder schon an der ganz elementaren Ausstattung mit Essen, mit angemessener Kleidung und Schulmaterial fehlt.
Nach den Erfahrungen mit dem Schulmittelfonds im Jahr 2008 in Pforzheim gibt es etwa 3.000 Kinder, denen es an diesen elementaren Voraussetzungen aufgrund der Einkommenssituation ihrer Eltern fehlt.

Es gibt die Gesichter, die von Armut so gezeichnet sind, dass sie uns schon fast abstoßen:
die Alkoholisierten auf den Parkbänken oder Bushaltestellen,
die Männer und Frauen, die ganz offensichtlich in den Abfalleimern nach etwas Brauchbarem wühlen.

Armut hat viele Gesichter.
Ich habe nur einige aufgezählt, eben die, die mir in unserer Stadt besonders ins Auge fallen.

Jeder von uns hat aber wahrscheinlich ganz unterschiedliche Vorstellungen, wenn er an Armut und
Arme denkt.
Deshalb möchte ich mich nun dem Armutsbegriff zuwenden

Armutsbegriff und Armutsbericht

Es gibt nicht die Definition von Armut sondern viele verschiedene.
Ich greife die Definition auf, die von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, entwickelt wurde.
Ich halte sie für sinnvoll, weil sie der Tatsache Rechnung trägt, dass Armut immer relativ ist.
So können Arme in Deutschland im Vergleich mit Armen im Kongo durchaus unwahrscheinlich
reich sein.

Nach der Definition der WHO meint „relative Armut“ die Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen, staatlichen und sozialgeographischen Umfeld eines Menschen.
Die Armutsgrenze bestimmt sich dann anhand des Verhältnisses des individuellen Einkommens zum „mittleren Einkommen“ im Heimatland einer Person.
Arm ist, wer monatlich weniger als die Hälfte des aus der Einkommensverteilung seines Landes berechneten mittleren Einkommens zur Verfügung hat.
Für Deutschland bedeutet das: Ein Single ist arm, wenn er monatlich weniger als 781 € netto zur
Verfügung hat.

Relative Armut macht sich in Deutschland vor allem durch eine soziokulturelle Verarmung bemerkbar, womit der Mangel an Teilhabe an bestimmten sozialen Aktivitäten gemeint ist (Theater- oder
Kinobesuch, Klassenfahrten usw.).

Aus dieser Definition ergibt sich, dass die deutschen Armen nicht absolut, sondern relativ arm sind.
Relativ arm aber sind in Deutschland viele Millionen Menschen. Sie leben aufgrund ihrer Armut am
Rand unserer Gesellschaft.

Im Jahr 2008 erschien der 3.Armutsbericht der Bundesregierung.
Dort kann man lesen, dass in Deutschland jeder vierte arm ist oder durch staatliche Transferleistungen
vor Armut bewahrt werden muss, d.h. sich nicht aus eigener Kraft über der Armutsgrenze halten kann.
Das sind immerhin fast 20 Millionen Menschen.
Diese Menschen verhungern nicht, sie sitzen auch nicht bettelnd in der Fußgängerzone.
Sie sind aber trotzdem arm, weil sie von der in unserem Land üblichen Lebensweisen ausgeschlossen
sind.
Man kann die Armut in Deutschland vielleicht an der Länge der Schlange vor den Tafelläden messen,
in denen Produkte billig abgegeben werden, die im normalen Handel nicht mehr verkäuflich sind.
In Pforzheim gibt es derzeit zwei solcher Tafelläden mit ca. 1.400 Berechtigten.

Im Armutsbericht steht auch, dass die Einkünfte der Reichen in den letzten Jahren gewachsen sind.
Reich ist, wer als Single netto mehr als 3.418 € oder als Familie mit zwei Kindern 7.178 € im Monat zur Verfügung hat.

Zugenommen hat auch die Zahl der „working poor“, also der Menschen, die einen Vollzeitjob haben
und dennoch nicht davon leben können, sondern weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.

Im Armutsbericht erfahren wir, dass physische Armut in Deutschland derzeit noch kein gravierendes Problem darstellt, wohingegen soziale Armut im Wachsen begriffen ist.

Abschließend können wir zusammenfassen, dass Armut in Deutschland sich vor allem als „Mangel an Verwirklichungschancen“ beschreiben lässt, um eine Formulierung des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen aufzugreifen.1

Ansichten zur Armut

So viele Gesichter der Armut es gibt, so viele Ansichten zur Armut gibt es auch.

Da gibt es die idyllisch-romantische Verklärung des einfachen Lebens der Armen, die in den Tag hineinleben können und eben keinen Stress und keine Sorgen haben wie die aktiv am Wirtschaftsleben Beteiligten.

Da gibt es die wissenschaftliche Theorie des amerikanischen Politologen Charles Murray, dass Armut
sich durch den schlechten Charakter der Armen erklären lasse.2 Diese Theorie stammt übrigens aus dem Jahr 1984. Später kam Murray zu der Auffassung, dass Armut vor allem auf niedrige Intelligenz zurückzuführen sei.
Erstaunlich ist für mich nicht, dass es solche abwegigen Ideen gibt, sondern wie sie auch in unserem
Land in mancher Diskussion versteckt oder offen mitschwingen – und wahrlich nicht nur an den sogenannten „Stammtischen“.

Da gibt es die Ansicht, dass Armut etwas Edles sei. So z.B. in dem wunderschönen und zugleich schillernden Zitat aus dem „Stundenbuch“ von Rainer Maria Rilke: „Armut ist ein großer Glanz aus Innen“.

Da gibt es die in ihrer Schlüssigkeit bestechende und zugleich beunruhigende Aussage des berühmten Theologen Johannes Chrysostomus aus dem 4.Jahrhundert: „Reich ist nicht, wer viel hat – sondern der,
der wenig braucht. Und arm ist nicht, wer wenig hat – sondern der, der viel begehrt.“

Da gibt es die ständig wiederholte Aufforderung bei den Propheten Israels: „…tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlingen und Armen…“ (Sacharja 7,10).
Die Propheten berufen sich dabei auf den besonderen Rechtsschutz, der im Anschluss an die Verkündigung der Zehn Gebote im 2.Buch Mose für die vier Zielgruppen „Witwen, Waisen,
Fremdlinge und Arme“ formuliert ist.

Da gibt es die prägenden Worte aus dem Beginn des Johannesevangeliums: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“
Interessant ist, dass das griechische Wort für „hat unter uns gewohnt“, „εσκήνωσεν“, eigentlich „
hat unter uns gezeltet“ bedeutet.
Wenn man über diese Aussage etwas nachdenkt, dann kann man durchaus zu der theologischen Position kommen, dass Gott selbst in seiner Verkörperung als Jesus von Nazareth zu einem Unbehausten, einem Heimatlosen, einem ohne Besitz, ohne gesellschaftlichen Status, also zu einem „Armen“ wird.
Und wenn man noch weiter denkt, dann werden die Armen zum Symbol für den unbehausten, für den armen Gott, der in dieser Welt unermüdlich unterwegs ist auf der Suche nach den Herzen, die ihn aufnehmen und Heimat geben.

Und da sind schließlich die provokanten Worte Jesu, mit denen ich meinen Vortrag überschrieben habe: „Die Armen habt ihr immer bei euch“.
Sie sind weder zynisch gemeint noch sind sie eine Aufforderung, die Dinge einfach treiben zu lassen.
Was Jesus uns über unsere sozialpolitische Agenda schreibt, ist die realistische Einschätzung des Lebens hier in dieser Welt mit allem, was dazu gehört.
Und dazu gehört auch die Armut.
Sie hat es immer gegeben und wird es immer geben.
Alle Versuche, die Armut auszurotten, sind letztlich gescheitert.
Nicht selten haben sie zu Gesellschaftsformen geführt, die unmenschlich waren, weil sie eben eine Grundkomponente des menschlichen Lebens leugneten.
Zum Leben gehören eben Menschen, die schwächer, erfolgloser, kränker, nicht so intelligent sind wie der Durchschnitt und die sich auf aufgrund dieses Umstandes nicht so verwirklichen können, wie sie es wünschen und die deshalb „arm“ sind.

Diese Tatsache darf nun in keinem Fall als eine Aufforderung verstanden werden, die sozialen Verhältnisse dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen.
Wir müssen vielmehr alles tun, was in unseren Möglichkeiten liegt, um ein Höchstmaß an Teilhabegerechtigkeit herzustellen.
Aber wir müssen auch damit leben lernen, dass es immer Arme geben wird. Dass es immer Menschen geben wird, die unseren besonderen Schutz, unsere besondere Zuwendung, unsere besondere Unterstützung brauchen.

So ist es als ethische Grundlage in den drei großen monotheistischen Religionen abrahamitischen Ursprungs, Judentum, Christentum und Islam, formuliert.
Und an der Umsetzung dieser Grundlage entscheidet es sich, ob eine Gesellschaft die Prädikate „menschlich“, „zivilisiert“ und „kultiviert“ verdient oder nicht.
Also: Es ist nicht die Zahl der Theater oder die Übergangsquote von der Grundschule aufs Gymnasium
und auch nicht die Zahl der Nobelpreisträger, die eine Aussage über den kulturellen Reifegrad einer Gesellschaft erlauben.

Der kulturelle Reifegrad bemisst sich vielmehr daran, wie wir mit den Menschen umgehen, die sich
nicht für Shakespeares „Sommernachtstraum“ und noch nicht einmal für den neusten James Bond-Film interessieren.
Er bemisst sich daran, wie wir mit den Menschen umgehen, die sich der Bildung verweigern oder
die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind, sich zu bilden oder bilden zu lassen.
Er bemisst sich daran, wie wir mit den Menschen umgehen, die nichts zum Wohlstand unseres Landes
und unserer Stadt beitragen können, sondern diesen Wohlstand durch die Transferleistungen, die sie beziehen, sogar noch schmälern.

Thesen

Keiner von uns möchte arm sein.
Und doch kann es uns alle treffen. Und das meine ich nicht nur im Hinblick auf die aktuelle Banken-
und Wirtschaftskrise.
Es gibt viele Biografien armer Menschen, die aufzeigen, wie schnell eine Krankheit, ein Misserfolg,
eine familiäre Krise, eine Schuld oder eine falsche Entscheidung zum gesellschaftlichen und sozialen
Abstieg führen können.
Es ist also im Grunde nicht nur reiner Altruismus, sondern ist durchaus auch in unserem eigenen
Interesse, wenn es uns gelingt, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass man auch dann würdig und hoffnungsvoll leben kann, wenn man arm ist.

Wir alle, die wir heute hier sind, sind Mitglieder der Löblichen Singergesellschaft oder sind ihr
zumindest nahestehend.
Wenn wir an die Ursprünge der Löblichen Singergesellschaft zurückgehen, dann stoßen wir auf den Wunsch bzw. die Verpflichtung, sich um die Menschen zu kümmern, die keine andere Hilfe hatten,
also die Schwächsten der Gesellschaft.
Zur Zeit der Pest waren das die Pesttoten. Sie waren nicht nur hilfebedürftig, sondern geradezu
gefährlich, konnte man sich an ihnen doch hervorragend anstecken. Was wäre näherliegender gewesen,
als diese Toten sich selbst zu überlassen.
Dennoch haben sich in unserer Stadt Männer gefunden, denen es nicht gleichgültig war, was mit diesen Toten passierte. Aus dem Geist des Christentums heraus haben sie sich selbst in Gefahr gebracht, um jedem – auch dem Pesttoten – ein christliches Begräbnis zu ermöglichen. Für sie war dieses Begräbnis
ein Zeichen der Würde, die jeder Mensch besitzt.
Diese „Singer“ wollten nicht akzeptieren, dass ein äußerer Umstand, selbst wenn es eine schlimme Katastrophe wie die Pest war, dass dieser Umstand in der Lage sein sollte, eine Gesellschaft in einen
so unwürdigen Zustand zu versetzen, dass sie Tote ohne ein Begräbnis lässt.

An diese Tradition gilt es anzuknüpfen, wenn es heute darum geht, sich mit der Armut in Pforzheim
zu beschäftigen.
Und das bedeutet zuallererst:
Die Armut nicht zu verdrängen, nicht über sie hinwegzusehen, sie nicht zu beschönigen, sondern sich
ihr zu stellen, ihren Ursachen auf den Grund zu gehen.
Das ist unsere Aufgabe.

Und daraus folgen dann Überlegungen, wie es uns gelingen kann, die Strukturen in unserem Land
und in unserer Stadt so zu gestalten, dass möglichst wenig Menschen in Armut geraten, dass möglichst
viele aus der Armut wieder herauskommen und dass die, die weiterhin in Armut leben, ihre Würde behalten, sich dieser Würde bewusst werden und ihren Anteil am Glück des Lebens erhalten, ohne
dass sie dadurch beschämt werden.

Ich möchte in keiner Weise für mich in Anspruch nehmen, dass ich Ihnen die Lösungen für die Armutsproblematik in unserer Stadt präsentieren könnte.
Dennoch möchte ich Ihnen zum Schluss thesenartig einige meiner Überlegungen zur Frage der Armut
in Pforzheim mitteilen.

1. Es gilt, den Versuchen, Armut zu privatisieren, entgegenzuwirken

Es gibt sicherlich persönliche Ursachen für Armut. Diese können nur auf einer persönlichen Basis
behoben werden.
Wir würden es uns allerdings zu leicht machen, wenn wir Armut als reine Privatangelegenheit, die persönlich verschuldet und deshalb auch eigenverantwortlich zu beheben ist, betrachten würden.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seit den Sozialreformen, die mit dem Namen des inzwischen
sehr zweifelhaften Peter Hartz verbunden sind, ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden
hat.
Anspruch auf staatliche Förderung, also Transferleistungen, hat dem Grunde nach nur noch, wer sich
durch die Gesellschaft bzw. den Staat auch fordern lässt.
Damit einher geht auch eine Werte-Verschiebung im öffentlichen Bewusstsein: Anspruch hat nur, wer selbst etwas zu tun bereit ist. Wer nichts tun will oder tun kann, der muss damit leben, dass man ihm unterstellt, er sei an seiner Situation eben selbst Schuld. Und wenn er aus der „sozialen Hängematte“ herausfalle, dann sei das nur zu Recht.

Ich sage an dieser Stelle durchaus kritisch: Ein Staat, der es sich leistet, mehrstellige Milliardenbeträge
für die Lösung der durch Individuen verschuldete Bankenkrise zu investieren, der muss es sich auch
leisten können, dort zu investieren, wo Menschen in Not sind.

Eine Gesellschaft, die versucht, die Armen los zu werden, indem sie ihre Verantwortung für die
Armen leugnet, wird zu einer unmenschlichen, weil wir Arme immer unter uns haben und weil die Hilfebedürftigkeit zum Menschsein als konstitutiver Faktor am Lebensbeginn und am Lebensende dazugehört, also an sich nichts Verwerfliches sein kann.

2. Wir müssen verhindern, dass Parallelwelten entstehen

In meiner Kindheit gingen Menschen, die nicht so viel Geld hatten, zu ALDI. Dort konnten sie sich
mit ihrem Geld reguläre, wenn auch damals nicht die allerbesten Waren kaufen.
Heute ist ALDI am Stadtrand zu finden, weil es dort genug Parkplätze gibt.
Die Menschen, die nicht so viel Geld haben, haben meist zwar gar kein Auto, um ALDI zu erreichen,
was aber auch nicht so schlimm ist, weil sie inzwischen sowieso in den Tafelläden einkaufen, um über
die Runden zu kommen.
Wohlgemerkt: Ich bin weder gegen die gesellschaftliche Öffnung von ALDI noch gegen Tafelläden.
Aber ich sehe es mit Besorgnis, dass bestimmte Menschen in bestimmten Lebensbereichen gar nicht
mehr vorkommen, sondern dass sich Parallelwelten bilden, die es uns ermöglichen, wunderbar
aneinander vorbeizuleben.

„Arme“, sagt Jesus, „habt ihr immer bei euch“.
Er sagt nicht: neben euch. Er sagt bei euch, also in eurer Mitte.
Sie erinnern euch daran, dass euer Erfolg, euer Wohlstand, euer Glück, ja euer ganzes Leben auch Geschenk ist – unverdient, jederzeit verlierbar und deshalb unendlich wertvoll.
Und die Armen erinnern euch an eure Aufgabe, euch ihrer anzunehmen als schwache, aber nichts desto trotz würdige Teile der Gesellschaft.

3. Wir müssen auch den Menschen, die wenig eigene Ressourcen haben,
Lebensperspektiven bieten

Armut in unserer Stadt hat sehr häufig etwas mit Langzeitarbeitslosigkeit bzw. mit zu schlecht bezahlter Arbeit zu tun.
Es gibt in Pforzheim ca. 6.500 Bedarfsgemeinschaften, die Arbeitslosengeld II beziehen. Wenn man die Zahl der Bezieher von Sozialgeld dazu nimmt, so sind das ca. 13.000 Personen.
Langzeitarbeitslosigkeit hat einerseits etwas mit mangelnder Qualifikation zu tun, andererseits aber auch
mit dem Fehlen von Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte. Diese Arbeitsplätze werden aber immer gebraucht, auch wenn wir uns noch so sehr um bessere Bildung bemühen, denn es bleiben immer Menschen übrig, die nicht in der Lage sein werden – z.T. aufgrund ihrer psychischen Gesamtsituation – komplizierte und andauernde Tätigkeiten auszuüben.

Es wäre eine unglaubliche Hilfe, wenn es uns gelänge, durch entsprechende staatliche Förderung mehr reguläre Arbeitsplätze für Menschen mit geringeren Ressourcen zu schaffen.
Viele Versuche der Privatwirtschaft und der Kommune, Aufgaben outzusourcen, haben dazu geführt,
dass Geringqualifizierte ihre Arbeit verloren haben oder nun zu Stundenlöhnen arbeiten, die sie weiterhin
zu Hilfeempfängern machen.
Es muss möglich sein, dass auch geringer Qualifizierte in unserer Stadt eine Arbeit finden und damit in
einer immer noch von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft eine Lebensperspektive bekommen.

4. Wir müssen uns dafür engagieren, dass jeder Mensch in unserer Stadt – ganz egal, woher
er stammt – eine Heimat finden kann

Armut ist in Pforzheim auch ein Problem von Menschen mit Migrationshintergrund.
In den letzten Jahren hat es in Pforzheim gelungene Versuche gegeben, Menschen mit Migrationshintergrund besser zu integrieren.
Damit ich bereit bin, mich in einer an sich fremden Kultur zu integrieren, muss ich mich dort zu Hause fühlen.
Dies ist aber nur möglich, wenn ich Zugang zur Kultur und zur Geschichte meiner neuen Umgebung habe.
Wir sollten uns verstärkt darum bemühen, unsere Stadtgeschichte, unsere Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und unsere Stadtkultur an Menschen mit Migrationshintergrund zu vermitteln.
Dazu brauchen wir andere Methoden als üblich, weil diese Menschen selten ins Theater und ins Kino gehen. Sie besuchen auch keine Vorträge und lesen keine Bücher.
Ich sehe hier sowohl die institutionellen Kulturträger, wie auch KITAs, Schulen, Familien- und Jugendzentren vor weiteren wichtigen Herausforderungen, um das bereits Erreichte fortzusetzen.

5. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Mensch in unserer Stadt nicht nur in Würde leben, sondern auch in Würde sterben kann und in Würde bestattet wird

Gemeinsam mit einem weiteren diakonischen Träger, dem Pforzheimer Bestattungshaus und der Stadt Pforzheim bemühen wir uns im Diakonischen Werk darum, dass es in Pforzheim zukünftig keine
anonymen Bestattungen mehr geben muss, sofern sie nicht ausdrücklich gewünscht werden.
Niemand soll aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse durch den Tod namenlos werden und ohne
einen identifizierbaren Ort für die Trauer bestattet werden.
Ein würdiges – und das bedeutet, ein der örtlichen Sitte folgendes – Begräbnis mit einer Namenstafel gehört zum Letzten, was wir einem armen Menschen schenken können, der auf vieles, was wir dank unseres Wohlstandes genießen dürfen, verzichten musste.
Es wäre ein schönes Zeichen, wenn diese Initiative gerade von der Löblichen Singergesellschaft auch
ideell und finanziell unterstützt würde.


Schlussbemerkungen

Heute findet nicht nur die Hauptversammlung der Löblichen Singergesellschaft statt, sondern heute
begehen wir auch das Fest der Heiligen Drei Könige.
Sie haben sich auf einen langen und beschwerlichen Weg gemacht, um den neugeborenen König zu
finden, der ihrem Leben eine neue, hoffnungsvolle Perspektive gegeben hat.
Im Stall von Bethlehem haben sie vor dem gleichen Kind gekniet wie zuvor die Hirten.
Von Anfang an hat das himmlische Kind also reiche und arme, mächtige und machtlose, gebildete
und einfache Menschen zusammengeführt.
Und so ging es dann auch weiter.
Immer wieder hat Jesus, der Christus, uns daran erinnert, dass wir Menschen zusammengehören und füreinander Verantwortung tragen.
In besonderer Weise hat er uns die Armen ans Herz gelegt.
„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Bramherzigkeit erlangen.“ sagt Jesus und meint damit:
An unserem Umgang mit den Hilfebedürftigen entscheidet es sich, ob wir, wenn wir selbst hilfebedürftig sind, Strukturen vorfinden, die uns diese Hilfe gewähren.

Die Armut in Pforzheim.
Sie hat viele Gesichter.
Es gibt viele Ansichten zu ihr.
Doch wie wir sie auch sehen – übersehen sollten wir sie nicht.
Sie ist uns als bleibende Herausforderung aufgegeben.
Es gibt viele gute und hoffnungsvolle Ansätze, mit der Armut in unserer Stadt umzugehen.
Arbeiten wir weiter daran im Geist der Löblichen Singergesellschaft.
Und, um zum Schluss Mutter Theresa zu zitieren, „wenn wir auch manchmal glauben, dass das, was wir tun, nur ein Wassertropfen im Meer sei – das Meer wäre kleiner ohne diesen Tropfen“.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

1 Amartya Sen (geb. 1933) legt seine Gedanken zu diesem Thema in seinem Werk „Development as Freedom“ dar.
Die zwölf Kapitel des Buches (dt. Titel „Die Ökonomie des Menschen“) basieren auf sechs Vorlesungen, die er der Weltbank vorgetragen hatte.

Sens Hauptgedanke bezieht sich hier auf die Vergrößerung der individuellen Freiheiten zur Minderung der sozialen, globalen Ungerechtigkeit. Er entwirft zuerst ein Konzept, in dem die Freiheit bzw. die Verwirklichungschancen die
Basis des ethischen Handelns und das eigentliche Entwicklungsziel sind. Die Steigerung des Bruttosozialprodukts ist nur eine Nebenerscheinung dieses Prozesses. Daraus folgert er die Wichtigkeit eines allgemeinen Bildungs- und Gesundheitssystems schon als ersten Schritt für Entwicklungsländer. Der Begriff der „Entwicklung“ ist, wie man es
auch dem englischen Originaltitel entnehmen kann, von zentraler Bedeutung. Den Maßstab für die Entwicklung
versteht Sen nicht – wie in der neoklassischen Sicht üblich – nur als reine Messung des Anstiegs des Prokopfeinkommens. Neben den wirtschaftlichen Faktoren spielen auch soziale und politische eine erhebliche Rolle. Entwicklung ist die Vergrößerung der Freiheiten der Menschen. Sie soll die menschlichen Verwirklichungschancen („capabilities“) erweitern.

„Freiheit“, die mit „Entwicklung“ in ständiger Wechselwirkung steht, manifestiert sich in Verfahren, die sowohl Handlungs- als auch Entscheidungsfreiheit ermöglichen und in Chancen, die Menschen angesichts ihrer eigenen sozialen Umstände haben. Des Weiteren sind Freiheiten die Grundbausteine der Entwicklung, wobei die Freiheit zur Erweiterung der individuellen Verwirklichungschancen die größte Rolle spielt. Individuelle Freiheit ermöglicht es
dem Menschen, sich selbst zu helfen und auf seine Umgebung einzuwirken. Sie ist folglich sowohl Mittel, als auch
Ziel der Entwicklung.

Der Stand der Entwicklung kann auf zwei Ebenen sichtbar werden:

Evaluative Ebene: Sie wird dadurch festgestellt, ob die Freiheiten zugenommen haben. Effektivitätsebene: Hier wird
an der Handlungsfreiheit gemessen, ob Entwicklung erreicht wurde oder nicht.

Fünf einander ergänzende Freiheiten sind für den Entwicklungsprozess von Bedeutung

1. Die politische Freiheit:

Bei ihr spielt die Demokratie eine wesentliche Rolle, denn sie vergrößert die Verwirklichungschancen der Menschen
und ist deshalb die beste Regierungsform. Sie ist ein wesentlicher Weg zur Erweiterung der Freiheiten. Das liegt daran, dass sie den Menschen ermöglicht ihre Meinungen kund zu tun. Ebenso kann man auch die Werte und Prioritäten
der Gesellschaft öffentlich in einer Aussprache festlegen.

2. Ökonomische Einrichtungen:

Ein zusätzlicher wichtiger Faktor für die Entwicklung ist der ungestörte und freie Zugang zum Markt und zum Arbeitsmarkt. Aufgrund der Ansicht, dass staatliche Regulierungen unter bestimmten Umständen legitim oder
sogar notwendig sind, spricht sich Sen nicht für eine reine Marktwirtschaft aus.

3. Soziale Chancen.
Beginnend mit den sozialen Institutionen wird es den Menschen ermöglicht, am wirtschaftlichen Fortschritt teil
zu haben. Die Leistung des Marktes hängt nicht nur von den politischen, sondern auch von den sozialen
Bedingungen ab.

4. Gesellschaftliche Transparenz.

Die Transparenz ist die Basis des Vertrauens, auf der eine funktionierende Gesellschaft aufbaut. Sie ist vorbeugend gegen Korruption und anderem unverantwortlichen Umgang mit Finanzen und Macht. Politische und ökonomische Freiheiten werden stark durch Transparenzgarantien beeinflusst.

5. Soziale Sicherheit:

Sie gehört zu den instrumentellen Freiheiten, die einerseits Ziel, anderseits aber auch ein Mittel der Entwicklung sind. Sozialversicherungen verhindern oft, dass außerordentliches Elend oder Armut entstehen. Unter anderem gehören in diese Sparte Hilfe für Arbeitslose, Unterstützung bei Hungersnöten und von Mittellosen. In seinem Buch „Die
Ökonomie für den Menschen“ spricht sich Sen gegen zwei übliche Einsprüche gegen staatliche Sozialsysteme aus. Einerseits die Aussage, zu viel Unterstützung würde dem Arbeitslosengeldempfänger die Motivation nach
Arbeitssuche nehmen. Da es aus der Empirie keine Daten und Statistiken über dieses angebliche Phänomen gibt,
ist es sehr fragwürdig, ob dies auch zutrifft. Abgesehen davon ist es für den Empfänger dieser Unterstützung ein erniedrigender Zustand, weil dieser ihn mehr oder weniger zu einem Empfänger von Almosen macht.
Die zweite Kritik, die besagt, das System würde oft missbraucht, weist er zurück. Er legt hier dar, dass man solche Unterstützungen nicht verringern oder eliminieren könne, ohne die wirklich Bedürftigen auch in Mitleidenschaft zu ziehen.

Im Gegensatz zu neoliberalistischen Ansichten ist Sen der Meinung, dass Staat und Gesellschaft die individuellen Verwirklichungschancen zu erweitern haben, damit Grundlagen für ein eigenverantwortliches Handeln geschaffen werden können, denn die Menschen sind aktiv formend an ihrem Schicksal tätig.

Armut ist für Sen der Ausdruck eines Mangels an grundsätzlichen Verwirklichungschancen. Die Beziehung zwischen Einkommen und Verwirklichungschancen wird beeinflusst durch:

Familienstand, Zahl der Kinder, Geschlecht und soziale Rolle

Arbeitslosigkeit ist eine hauptsächliche Behinderung menschlicher Verwirklichungschancen

 

2 In seinem Buch „Losing Ground“ teilt Murray Arme in zwei Klassen ein: die „working class“ und die „underclass“. Letztere wird von ihm auch als „dangerous class“ („gefährliche Schicht“) oder „undeserving poor“ („Arme, die es nicht verdient haben, dass man ihnen hilft“) bezeichnet. Diese „undeserving poor“ zeichnen sich laut Murray durch mangelnde Selbstdisziplin aus. Sie hätten nicht den Ehrgeiz, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, sondern lebten lieber von Almosen. Die „underclass“ habe sich als Reaktion auf zu hohe Sozialleistungen entwickelt. Einige Leute hätten die Sozialhilfe zu ihrem Lebensstil gemacht. Des Weiteren sei es durch Sozialleistungen für alleinerziehende Mütter zu einem Zerfall der Familie gekommen. Frauen würden bewusst die alleinerziehende Mutterschaft wählen, um möglichst viel Sozialleistungen zum empfangen. Als natürlichen Feind der „undeserving poor“ sieht Murray die „working class“ an, denn diese finanzierten den Lebensstil der „underclass“; was aber noch schlimmer sei: Die „underclass“ verdürbe durch ihren Lebensstil die Kinder der arbeitenden Klasse, die die falschen Werte der „underclass“ übernähmen.

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