Vortrag
Matthias Dall’Asta
von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Reuchlin-Forschungsstelle Pforzheim
anlässlich der Matinee zur Stadtgeschichte am 04.11.2007
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vergessen Sie – falls Sie das nicht schon längst getan haben – Uri Geller, David Copperfield und Harry Potter, vergessen Sie verbogene Löffel, Las Vegas und die Zauberschule Hogwarts.
Ich möchte heute versuchen, Sie auf dem Zaubermantel des Wortes, der viel effektiver ist als alle Rowlingschen Besenfluggeräte, in die Zeit Johannes Reuchlins zurückzuversetzen. Und zwar nicht nur in das spätmittelalterliche Pforzheim, sondern auch in das Rom des Jahres 1484, nach Lyon im Jahre 1501 sowie in die alte Reichsstadt Gelnhausen im Jahre 1506. Und damit nicht genug, werden wir auch einige Kurzbesuche bei den antiken Brahmanen in Indien, den ägyptischen Gymnosophisten und in einem finsteren Gewölbe der Stadt Tyana in Kappadokien machen – natürlich immer auf den Spuren Johannes Reuchlins. Nach allen diesen Irrfahrten sollten wir dann in Sachen Magie hinlänglich unterrichtet sein, um schließlich gegen Ende meiner Ausführungen zu „des Pudels Kern“ vordringen zu können, zu einem Kern, der für manchen von Ihnen recht überraschend ausfallen dürfte.
Bevor man auf Reisen geht, muß man aber bekanntermaßen einige Vorbereitungen treffen, um nicht unterwegs auf der Strecke zu bleiben. In unserem Fall handelt es sich dabei um Vorbereitungen, genauer: um vorbereitende Klärungen historischer, begrifflicher und inhaltlicher Art.
Meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe Zauberfreunde und Adepten der Magia, es hilft nichts:
Da müssen wir jetzt erst einmal gemeinsam durch.1
I. WEGE DER FORSCHUNG
„Es ist kain kunst die uns mer gewiß macht von der gothait Cristi dan Magia und Cabala.“
In seinem berühmten Gutachten zur jüdischen Literatur übersetzte Johannes Reuchlin im Jahre 1510 mit den zitierten Worten eine der 900 lateinischen Thesen des Philosophen Giovanni Pico della Mirandola: Nulla est scientia, quae nos magis certificet de divinitate Christi, quam Magia et Cabala. 2
Dieses Zitat macht deutlich, daß Renaissance-Philosophen wie Reuchlin oder Giovanni Pico die Magie
und die mystisch-spekulative Geheimlehre der jüdischen Kabbala nicht pauschal als eine gleichsam „schwarze“ teuflische Kunst betrachtet haben, die der christlichen Glaubenslehre notwendigerweise feindlich und unversöhnlich gegenüberstünde. Im Gegenteil: Sie haben der Magie und Mystik im Rahmen eines christlich fundierten Humanismus eine wichtige Offenbarungsfunktion zugemessen. Reuchlins bahnbrechende Werke zur hebräischen Sprache und Literatur waren ganz maßgeblich durch sein Interesse an magischen und mystischen Texten motiviert. Der Kirche waren derlei Ansichten jedoch suspekt, und so wurde Giovanni Picos These von der christologischen Bedeutung von Magie und Kabbala 1487 durch
eine päpstliche Kommission umgehend als häretisch verurteilt.
In Reuchlins Freundes- und Bekanntenkreis gab es eine ganze Reihe von Gelehrten, die wegen ihrer Beschäftigung mit Fragen der Magie in Mißkredit und ernste Bedrängnis gerieten: Giovanni Pico della Mirandola floh nach der Skandalisierung seiner Thesen Ende 1487 aus Rom nach Frankreich, wurde aber in der Nähe von Lyon verhaftet und vorübergehend gefangengesetzt. Der Florentiner Platoniker Marsilio Ficino, ein von Reuchlin überaus geschätzter Briefpartner, wurde 1489 nach der Publikation seines Werkes De vita libri tres (Drei Bücher über das Leben) wegen Magie angeklagt und entging einer Verurteilung nur knapp. Der Benediktinermönch und Humanist Johannes Trithemius, dessen umfangreiche Bibliothek Reuchlin 1496 im Kloster Sponheim aufsuchte, wurde nicht nur von den Vertretern der Papstkirche, sondern auch von Martin Luther für einen gefährlichen Zauberer und Schwarzkünstler gehalten, weil er auch vor Geisterbeschwörungen nicht zurückgeschreckt sei. Trithemius’ Schüler Cornelius Agrippa von Nettesheim, der 1509 an der Universität Dôle in Burgund eine Vorlesung über Reuchlins
De verbo mirifico hielt, wurde mit seinem enzyklopädischen Werk De occulta philosophia (Drei Bücher über die Magie) dann geradezu zum Inbegriff eines finsteren Erzmagiers und Hexenmeisters.
Reuchlin wußte also genau, wie gefährlich eine Beschäftigung mit magischen Inhalten war. Den Dominikanerprovinzial und Inquisitor Jakob Sprenger, der als Mitverfasser des 1487 in Straßburg erschienenen Malleus maleficarum (des Hexenhammers) berüchtigt war, kannte er persönlich. Und nach der Veröffentlichung seines vermeintlich ketzerischen Augenspiegel im Jahre 1511 hat Reuchlin die Einschüchterungen und Drohungen der Inquisition dann auch selber erfahren müssen. Mit Reuchlins Ankläger, dem Kölner Inquisitor Jakob Hoogstraeten, war nicht zu Spaßen; der Fall des 1512 in Den Haag verbrannten niederländischen Arztes Hermann van Rijswijk, den Hoogstraeten als rückfälligen Ketzer eingestuft und den Henkern übergeben hatte, bewies das zur Genüge.
Nicht nur Hebammen und kräuterkundige Frauen konnten damals leicht den Verdacht gefährlicher Magie und Hexerei auf sich ziehen, sondern auch Philosophen und Ärzte wurden verdächtig, wenn sie wie Marsilio Ficino oder Cornelius Agrippa von Nettesheim mit Kräutern und gefährlichen Giften hantierten, den Gebrauch von Amuletten empfahlen, der Astrologie huldigten oder gar Zauberformeln wie das spätantike Abracadabra behandelten. Um so mehr mußten sie darauf bedacht sein, die von Ihnen praktizierte oder theoretisch erörterte „weiße“ oder natürliche Magie (Magia naturalis) von einer verderblichen „schwarzen“ Magie abzugrenzen, welche in letzter Instanz immer auf die Mitwirkung Satans und seines Teufelsheeres zurückgeführt werden mußte. So verfänglich das Thema Magie auch war, die Renaissance-Gelehrten mochten nicht von ihm lassen: Nach August Buck wurden die größten Bucherfolge während der Renaissance nicht von den Klassiker-Ausgaben der Humanisten, sondern von Traktaten über Dämonologie und Magie erzielt, „war doch der Magier das Wunschbild all derer, die sich die geheimen Kräfte der Natur dienstbar machen wollten.” 3
Seit dem Zeitalter der Aufklärung wurden solche okkulten Schriften zumeist als eher peinliche Verirrungen der menschlichen Vernunft und des abendländischen Denkens abgetan. Erst im 20. Jahrhundert wurden sie wieder zu einem ernstgenommenen Gegenstand eingehender Forschungen. Durch Werke wie Lynn Thorndikes monumentale Geschichte der Magie und der Experimentalwissenschaften, die 1923–1958 in acht dicken Bänden erschien, wie Frances Amelia Yates’ berühmte kulturgeschichtliche Monographie Giordano Bruno und die hermetische Tradition von 1964 oder wie Daniel Pickering Walkers Arbeiten zur Magie und zum christlichen Platonismus der Renaissance wurden neue Grundlagen zum Verständnis der europäischen Gelehrtenkultur und Esoterik gelegt, die bis heute prägend geblieben sind.4 Die zahlreichen Publikationen und wissenschaftlichen Tagungen zum Okkultismus, zu den diversen Geheimgesellschaften, zur Kabbala oder zu den historischen wie zeitgenössischen Erscheinungsformen der Magie lassen sich mittlerweile kaum noch überblicken.
Ludwig Geiger hatte 1871 in seiner bis heute autoritativen Biographie Johannes Reuchlins noch geschrieben, daß dieser von Magie und Zauberei „durchaus nichts wissen“ wollte. 5 Es ist das Verdienst des australischen Historikers Charles Zika, diese Behauptung gründlich widerlegt zu haben. In Zikas 1974 an der Universität Melbourne eingereichter Magisterarbeit, die 1998 unter dem Titel Reuchlin und die okkulte Tradition der Renaissance auch in deutscher Übersetzung erschien, 6 wird die kraftvolle magische Grundierung von Reuchlins Werken De verbo mirifico und De arte cabalistica eindrucksvoll herausgearbeitet, so daß dem Pforzheimer Humanisten sein wichtiger Platz innerhalb der Geschichte des abendländischen Okkultismus präzise zugewiesen werden kann. Dabei spannt Zika einen Bogen von Reuchlins Theorie der magischen Kraft „barbarischer Worte“ über die Traditionskette der Prisca theologia und ihren Repräsentanten wie Hermes Trismegistos, Zoroaster, Pythagoras oder Platon bis hin zu Reuchlins genuin kabbalistischer Engelsmagie.
Was Zikas Buch auf knapp 200 Seiten en détail ausbreitet, kann hier natürlich nicht innerhalb von 45 Minuten dargestellt werden. Ich verzichte daher an dieser Stelle ganz darauf, auf Reuchlins De arte cabalistica einzugehen, und möchte stattdessen auf der Bühne dieses Forums einige Magier heraufbeschwören, die Reuchlin gut bekannt waren. Damit dürfte zwar der kirchenrechtliche Straftatbestand der Geisterbeschwörung erfüllt sein, ich vertraue jedoch darauf, daß die Römische Glaubenskongregation derzeit noch voll und ganz damit beschäftigt ist, nach Abschluß der Potter-Heptade und der Tinten-Trilogie die Hexenprozesse gegen Miss Rowling und Cornelia Funke vorzubereiten.
II. DER PHÖNIZIER SIDONIUS, GIOVANNI MERCURIO UND APOLLONIOS
VON TYANA
Der fiktiven Rahmenhandlung von Reuchlins 1494 gedrucktem Dialog De verbo mirifico läßt sich entnehmen, daß der Phönizier Sidonius gegen Ende des 15. Jahrhunderts die weite Reise von der syrischen Mittelmeerküste bis nach Pforzheim angetreten hat. Der Grund und das Ziel seiner touristischen Unternehmung war – Vertreter der Pforzheimer Kongress und Marketing GmbH aufgepaßt! – niemand anders als Capnio alias Johannes Reuchlin. Von ihm erhoffte sich Sidonius in Pforzheim eine philosophische Unterweisung, die ihn befähigen sollte, nichts Geringeres als veritable Wunder zu vollbringen. Und so spricht der Phönizier in De verbo mirifico zu dem weisen Capnio:
„Wir haben darauf vertraut, daß du uns darin unterweist, […] allein durch unsere Rede unvermittelte, bewunderungs- und beifallswürdige Phänomene zu verursachen, die unter Beweis stellen würden, daß wir über die wahre Philosophie verfügen. Was nützt es denn auch, Tag für Tag vielerlei Wunderdinge zu lernen, niemals aber welche zu vollbringen? Das Volk hat eine große Meinung von uns als Philosophen und Universalgelehrten. So nämlich beschreibt man die Philosophie: sie sei das Wissen von göttlichen und menschlichen Dingen. Aber ich bitte euch, beste Freunde: Wie können wir vor dem Volk unsere Wissenschaft auf eine hervorstechende und glanzvolle Weise rechtfertigen, solange Werke dieser Art ausbleiben?
Es zählt nicht viel, wenn wir Wissenschaften kennen, die Personen minderen Ranges auch studiert haben. Keine Auszeichnung bringt Beredsamkeit, denn die hat die Natur schon den schwachen Frauen gewährt. Es ist auch keine [Kunst], wenn wir uns anheischig machen, so viele und komplizierte Streifragen von Schulgelehrten zu verwirren oder zu entwirren. Deshalb hält man uns allenthalben eher für Dummköpfe und Narren als für weise Männer, und dies sicherlich in dem Grade, daß das Wort Philosophie heutzutage gleichsam in Schimpf und Schande geraten ist. Auch auf volkstümlicher Ebene fordert die Religion zu einem frommen Lebenswandel auf, und die Moral erzwingt ihn. Daher werden wir uns nur ganz geringfügig vom ungebildeten Volk unterscheiden, wenn unser bewunderungswürdiger Beruf nicht auch von Wundertaten begleitet wird.“ 7
Aus diesen Worten des Sidonius wird sehr schön deutlich, daß das Renommee des ganz gewöhnlichen Geisteswissenschaftlers in der Renaissance fast ebenso schlecht war wie in der Gegenwart. Menschen, die statt Maschinenbau, Informatik oder Wirtschaftswissenschaften lieber Klassische Philologie oder Mittelalterliche Geschichte studieren, gelten heutzutage ja ebenfalls oft als „Dummköpfe und Narren“. Gegen diese schmerzliche gesellschaftliche Mißachtung konnten damals wie heute zwei wirkungsvolle Waffen eingesetzt werden: Selbstbewußtsein und Selbstinszenierung.
Betrachten wir hierzu zunächst ein eindrucksvolles Beispiel aus dem 15. Jahrhundert: Am Palmsonntag des Jahres 1484 trat in Rom ein etwa 33jähriger Mann von schlanker Gestalt, asketischen Gesichtszügen und mit wallendem braunen Haar vor die versammelte Menge der Gläubigen. Zuvor war er bereits früh am Morgen in Begleitung von vier Dienern in einem kostbaren, von einem goldenen Gürtel geschlossenen Gewand, scharlachfarbenen Stiefeln und purpurner Priesterbinde auf einem edlen Rappen durch die Stadt geritten. Nachdem er diese dann durch die Porta asinaria vorläufig wieder verlassen hatte, legte er ein knöchellanges blutiges Leinengewand an und setzte sich eine Dornenkrone auf. In Begleitung zweier seiner Diener, die in mit astrologischen Darstellungen bestickte Mäntel gehüllt waren, auf stattlichen Pferden saßen und ein Buch sowie ein Schwert emporhielten, ritt er dann gleichsam als neuer Christus auf einem weißen Esel mitten durch die Stadt: an der Laterankirche vorbei über den Campo dei Fiori bis hin zur Petersbasilika. An den drei genannten Orten hielt er unter dem Zeichen des Kreuzes prophetisch-ekstatische Ansprachen zu der ihn dicht umdrängenden Menge, Ansprachen, in denen er sich als einen Erwählten Gottes bezeichnete, der Macht über Tod und Teufel besitze und der gekommen sei, in Christi Namen das Evangelium, den Untergang der Gottlosen und die Rettung der von Anbeginn Erwählten zu verkündigen. Auf einem silbernen halbmondförmigen Plättchen, das an seiner Dornenkrone angebracht war, stand ein Orakel des Heiligen Geistes geschrieben, in dem der Prophet als Gottes erwählter Sohn Poimándres bezeichnet wurde. Er hatte ein Tintenfaß an seinen Lenden befestigt, trug ein siebenknotiges Rohr in der Hand und auf Brust und Rücken einen Schmuck, auf dem das mystische Tau der vom göttlichen Strafgericht verschonten Knechte Gottes dargestellt war. Vom Rücken des Esels hingen vorne rechts und links zwei kleine Säcke herab; in dem rechten befand sich ein helles Kästchen mit der goldenen Aufschrift Plena plenis – Vacua vacuis, in dem linken aber ein schwarzes Kästchen mit denselben Worten in umgekehrter Reihenfolge. Auch ein menschlicher Totenschädel wurde mitgeführt; er befand sich in einem Korb, der von der linken Schulter des Esels herunterhing. Am Ende seiner prophetischen Ansprache vor der Laterankirche nahm der Mann, der sich in Flugblättern als „Giovanni Mercurio aus Correggio, Engel der Weisheit und Pimander“ bezeichnete, den Schädel hervor, schlug mit seinem Rohrszepter mehrmals dagegen und beschwor das Strafgericht auf die Ungläubigen herab. Gleiches tat er zur allgemeinen Bestürzung der Zuhörer auch gegen Ende seiner Predigt vor dem Eingang zur Petersbasilika. Nach seinen Auftritten am Palmsonntag blieb der Prophet noch eine Zeitlang in Rom und predigte vor vielen begeisterten Menschen. Schließlich kehrte er zu Frau und Kindern nach Bologna zurück.
Dieses außergewöhnlich farbenprächtige Bild des ekstatischen Propheten überliefert uns dessen Schüler, der Renaissance-Philosoph Lodovico Lazzarelli (1450–1500) 8. Die moderne Forschung hat das Tintenfäßchen des Propheten, den mondsichelförmigen Stirnschmuck und die Selbsttitulatur als „Engel der Weisheit“ überzeugend als Attribute interpretiert, die in Anlehnung an den ägyptischen Gott Thot ausgewählt wurden, der als Erfinder der Schrift galt, aber auch als Mondgott und Götterbote Verehrung fand. Daher konnte der ägyptische Thot ohne weiteres dem griechischen Hermes und dem römischen Merkur gleichgesetzt werden. Das in griechischer Sprache geschriebene Corpus Hermeticum führte man auf die Gestalt des ägyptischen Hermes Trismegistos zurück, den Exponenten einer vermeintlich uralten ägyptischen Weisheit. Von vielen Humanisten wurde das Corpus Hermeticum lange Zeit für älter als selbst die Bücher Mose angesehen, bis Isaac Casaubon es 1614 schließlich als spätantike Fälschung entlarvte. Ein 1460 nach Florenz gebrachtes vierzehn Schriften des Corpus Hermeticum enthaltendes Manuskript war auf Veranlassung Cosimo de’ Medicis 1463 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt worden. Ficino gab seiner Übersetzung den Titel des ersten dieser Traktate: Pimander (der latinisierten Form des griechischen Originaltitels Poimándres). Wenn Giovanni „Mercurio“ aus Correggio sich selbst als „Pimander“, als Inkarnation des Hermes Trismegistos, bezeichnete und mit den Attributen Thots ausgestattet auftrat, so spiegelt dies seine Eingebundenheit in den intensiven hermetischen Diskurs der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der sich auch in den hermetischen Schriften seines Schülers Lazzarelli dokumentiert.
Rund 17 Jahre nach seinen prophetischen Predigten in Rom, tritt Giovanni Mercurio 1501 in Lyon ein zweites Mal aus dem Schatten der Geschichte. Über diesen zweiten Auftritt informieren uns im wesentlichen zwei Gewährsleute: Zum einen der bereits erwähnte Benediktiner Johannes Trithemius, der in seiner Chronik des Klosters Sponheim und nochmals in seiner etwas später entstandenen Hirsauer Klostergeschichte ausführlich über dieses Ereignis berichtet, zum anderen Johannes Reuchlin, der in einer seiner kabbalistischen Handschriften auf drei ursprünglich unbeschriebenen Blättern einen aus dem Jahre 1501 oder 1502 stammenden Brief kopiert hat, in welchem von Giovanni Mercurios Wundertaten die Rede ist.
Demnach erschien dieser mit Frau, Kindern, Knechten und Mägden 1501 in Lyon. Giovanni und alle seine Begleiter seien dabei nach dem Vorbild des Apollonios von Tyana in leinene Gewänder gehüllt gewesen und hätten eiserne Ketten um den Hals getragen. Seiner umfassenden Weisheit wegen habe Giovanni den Namen „Mercurius“ angenommen und sich zudem als Nachfolger und Schüler des Apollonios bezeichnet. Er habe sich dabei gerühmt, alle Kenntnisse der Hebräer, Griechen und Lateiner zu besitzen. Nahezu alle Philosophen und Theologen der Vergangenheit habe er gering geachtet und vorgegeben, mit jedwedem Wissen der Welt ausgestattet und als einziger in sämtliche Geheimnisse der Natur eingedrungen zu sein. Der französische König Ludwig XII. sei auf ihn aufmerksam geworden und habe seine Kenntnisse in einer Disputation durch zahlreiche Doktoren der Medizin auf die Probe stellen lassen. Diese hätten Giovanni Mercurio allerlei Fragen aus den verschiedensten Bereichen vorgelegt und auf jede eine mehr als zufriedenstellende Antwort erhalten. Beeindruckt hätten sie dem König berichtet, jener Ankömmling besitze tatsächlich ein schier übermenschliches Wissen und überrage alle an Weisheit, ohne daß sie anzugeben vermochten, wie er sich diese Kenntnisse angeeignet habe. Dieser Giovanni Mercurio habe König Ludwig zwei Geschenke überreicht: ein aus 180 Messern kunstvoll zusammengesetztes Schwert sowie einen Schild, in den ein angeblich über geheimnisvolle Kräfte verfügender Spiegel eingearbeitet gewesen sei. Was später aus dem merkwürdigen Manne wurde und welches Ende er fand, wissen Trithemius und Reuchlin nicht zu berichten.
Der Umstand, daß Giovanni Mercurio aus Correggio sich nicht nur als eine Reinkarnation des Hermes Trismegistos inszenierte, sondern sich 1501 in Lyon auch als einen Schüler des Apollonios von Tyana bezeichnet haben soll, gibt mir Gelegenheit, kurz auf die schillernde Figur dieses antiken Wundertäters einzugehen. Apollonios stammte aus der griechischen Stadt Tyana in Kappadokien, einer Landschaft im Zentrum der heutigen Türkei, und lebte im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt. Er war ein Anhänger der Philosophie des (auch von Reuchlin bewunderten) Pythagoras und bereiste als asketischer Wanderprediger anscheinend weite Teile der damals bekannten Welt. Seinem Biographen Philostrat zufolge, der auf Geheiß der römischen Kaiserin Julia Domna um das Jahr 220 nach Christus in griechischer Sprache eine romanhafte Darstellung seines Lebens verfaßt hat, soll Apollonios in zahlreichen Städten und Orakelstätten Kleinasiens, Griechenlands und Italiens aufgetreten sein und sogar die indischen Brahmanen und die Gymnosophisten in Oberägypten aufgesucht haben. Schon zu Lebzeiten stand Apollonios in dem zweifelhaften Ruf, nicht nur ein mit übersinnlichen Fähigkeiten begabter Asket, sondern ein gefährlicher Zauberer zu sein. Da er wegen seiner Austreibungen von Dämonen und Vampiren, seiner Krankenheilungen und einer angeblichen Totenerweckung seit der Spätantike als heidnischer Gegenspieler von Jesus Christus galt, war er bereits den Kirchenvätern ein Dorn im Auge und wurde in der Folge als Schwindler oder Teufelsbündner gebrandmarkt. Während Apollonios in den okkulten Kreisen des 19. und 20. Jahrhunderts in geheimnisvollen Zeremonien als Geist heraufbeschworen oder mitunter sogar als Reinkarnation Christi bezeichnet wurde, galt der wundertätige Neupythagoreer im 16. Jahrhundert bei „orthodoxen“ Kirchenvertretern als verruchter Hexenmeister.
Da ich mich im Rahmen meiner Doktorarbeit eingehend mit der Rezeption von Philostrats Biographie des Apollonios beschäftigt habe, 9 muß ich mich zwingen, es bei diesen wenigen Bemerkungen über den Mann aus Tyana zu belassen. Hinweisen möchte ich aber wenigstens darauf, daß Philostrats Apollonios-Vita auch von Reuchlin sehr aufmerksam gelesen wurde. Der Pforzheimer Humanist besaß nicht nur eine alte Handschrift des griechischen Originaltextes, sondern erwarb später auch Aldo Manuzios zweisprachige Ausgabe der Apollonios-Vita, die 1501–1504 in Venedig erschien. Reuchlins sorgfältige Lektüre dieser Biographie ist in seinen Briefen und Werken durch zahlreiche Zitate belegt.
Dazu einige Beispiele, die uns wieder zu unserem Phönizier Sidonius aus De verbo mirifico zurückführen. Bevor Sidonius nach Pforzheim kam, hatte er nach eigener Aussage um der Magie willen bereits zahlreiche Länder bereist, darunter Indien und Ägypten. Dort habe er viele wunderbare Dinge gesehen: das menschenfressende Fabeltier „Martichoras“, Goldwasser, den Magnetstein „Pantarbes“, Pygmäen, Schattenfüßler, gewaltige Tiger, den Vogel Phoenix, große weiße Perlen und anderes mehr. In Indien habe er auch an den rituellen Waschungen der Brahmanen teilgenommen, sich den Kopf mit Bernsteintropfen gesalbt und in weiße Leinengewänder gekleidet in die heiligen Chorgesänge der Weisen eingestimmt. Was sich angesichts des Goldwassers, der weißen Perlen und der Bernsteintropfen zunächst ein wenig wie der Besuch der Pforzheimer Schmuckwelten ausnimmt, entpuppt sich bei genauerer Prüfung als eine detaillierte Beschreibung derjenigen Dinge, von denen Philostrat im dritten Buch seiner Apollonios-Vita berichtet, in welchem die Indienreise des Apollonios von Tyana behandelt wird. Daß Reuchlins Sidonius über die Reisen des Magiers aus Tyana gut unterrichtet war, verdeutlicht die Fortsetzung seiner vorhin bereits zitierten Äußerung über das geringe Prestige der bloßen Durchschnittsphilosophen:
„Wir werden uns nur ganz geringfügig vom ungebildeten Volk unterscheiden, wenn unser bewunderungswürdiger Beruf nicht auch von Wundertaten begleitet wird. Ebendies bewog Thesp<es>ion, jenes berühmte Oberhaupt der [ägyptischen] Gymnosophisten, dem Philosophen von Tyana, der […] von weither gekommen war, um ihre Lehre zu erkunden, im Kreise der Schüler der Weisheit, mit denen Thesp<es>ion sich im Garten zum Gespräch niedergesetzt hatte, eine Ulme […] zu zeigen und zu sprechen: ‘O Baum, begrüße den weisen Apollonius, damit er erkennt, daß auch wir vom Besitz der Weisheit nicht ausgeschlossen sind!’ Also sprach der Baum zu ihm, wie ihm geheißen, mit deutlich vernehmbarer weiblicher Stimme. Sie glaubten nämlich, daß sie als Philosophen nichts gelten würden, wenn sie kein Wunder vorführen könnten, das jenseits aller menschlichen Fassungskraft läge.“ 10
Soviel zum ägyptischen Baumwunder des Gymnosophisten Thespesion, das übrigens von Apollonios als eher kindische Effekthascherei abgetan wurde. In der Dialogfigur des Sidonius hat Reuchlin einen fiktiven Nachfahren des Apollonios von Tyana geschaffen, der auf den Spuren des antiken Neupythagoreers über Indien und Ägypten bis in den Enzkreis gelangt ist, der somit dank Reuchlin als das neue gelobte Land der Magie erscheint.
Der Magier aus Tyana findet aber nicht nur bei griechischen oder lateinischen Autoren, sondern auch in arabischen Quellen Erwähnung, wobei er dann zumeist unter der Namensvariante „Balinus“ erscheint. Der für die arabischen Traditionen über Apollonios aufschlußreichste Text ist vermutlich das auf griechischen Quellen beruhende (und wohl auch aus dem Griechischen übersetzte) Buch über das Geheimnis der Schöpfung, dessen fingierte Fundgeschichte sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht liest:
„In Tyana, der Heimatstadt der armen Waise Balinus gab es ein Hermesstandbild auf einer Säule, deren Inschrift besagte, unter den Füßen des Bildes sei das Geheimnis der Schöpfung und die Darstellung der Natur verborgen. Während die Einwohner von Tyana den Sinn der Inschrift nicht verstanden und vergeblich unter die Füße der Statue starrten, begriff Balinus, sobald er herangewachsen war, daß man vielmehr zu Füßen der Statue graben müsse. Dabei stieß er auf den Eingang zu einem finsteren Gewölbe, konnte es aber nicht betreten, weil heftige Winde seine Lampe auslöschten. Von vergeblichen Versuchen erschöpft, sank er in Schlaf. Im Traum erhielt er von seiner vollkommenen Natur den Rat, die Flamme durch ein Glasgefäß abzuschirmen. Beim [anschließenden] Betreten der Höhle erblickte er einen Greis auf goldenem Thron; in der Hand trug dieser eine Smaragdtafel mit der Aufschrift ‚Darstellung der Natur’, vor ihm lag ein Buch mit dem Titel ‚Geheimnisse der Schöpfung’. Diesen beiden in der Höhle aufgefundenen Texten verdankt Balinus sein Wissen über den Aufbau der Welt.” 11
Diese finstere Höhle ist gleichsam der Tiefpunkt meines Vortrages. Die angeblich in Tyana von Apollonios aufgefundene Tabula Smaragdina Hermetis aber war seit den Zeiten von Albertus Magnus
(ca. 1200–1280) im Westen in einer lateinischen Fassung bekannt und wurde zum Grundbuch, zur gleichsam heiligen Offenbarungsschrift der Alchemisten des Spätmittelalters und der Neuzeit. Angesichts dieser Verbindung zwischen Hermes Trismegistos und Apollonios von Tyana wird ohne weiteres verständlich, wie Giovanni Mercurio sich als Reinkarnation des Hermes und zugleich auch als einen Schüler des Apollonios ausgeben konnte: Zwischen beiden Magiern bestand ein geheimes Band.
In Anbetracht der zahlreichen Zeugnisse, die Reuchlins intensive und langdauernde Rezeption von Philostrats Apollonios-Vita zweifelsfrei belegen, sei in diesem Zusammenhang eine Spekulation gewagt. In einem Orakel des als Tübinger Theosophie bekannten spätantiken christlichen Weisheitsbuches wird darauf verwiesen, daß Hermes Trismegistos, Moses und Apollonios von Tyana durch eine einzigartige Gottesnähe ausgezeichnet gewesen seien, eine Gottesnähe, die den Menschen sonst verwehrt bleibe. Der Text dieses im Original griechischen Orakels lautet:
„Auf die Frage, ob man durch ein bedachtsam geführtes Leben Gott nahe kommen könne, soll Apollon gesagt haben: Eine Göttern vorbehaltene Gabe zu finden, trachtest Du. Du kannst es nicht erjagen. Diese Gabe gewann als einziger in Ägypten der gerühmte Hermes, unter den Hebräern Moses und unter den Kappadok[i]ern ein weiser Mann, den einst die Erde der hochbekannten Tyene nährte. Für Sterbliche ist es nämlich schwer, unsterbliches Wissen mit Augen anzuschauen,
es sei denn, jemand hat eine göttliche Berufung.“ 12
Bei der Tübinger Handschrift Mb 27, in der das zitierte Orakel überliefert ist, handelt es sich um eine 1580 durch einen Schüler des Tübinger Gräzisten Martin Crusius in Durlach angefertigte Abschrift, die auf dem Text eines griechischen Sammelkodex beruht, der sich einst in Reuchlins Besitz befand und 1870 beim Brand der Straßburger Bibliothek vernichtet worden ist. Möglicherweise gehen die in der Tübinger Abschrift enthaltenen Marginalien – neben den griechischen Worten kaì Mazakéon sophòs anér stehen am Rand die erläuternden Einträge tôn Kappadokôn und Apollónios – auf ursprüngliche Randbemerkungen von Reuchlins Hand zurück. Die Namensreihe “Hermes (Trismegistos) – Moses – Apollonios von Tyana” dürfte jedenfalls seine besondere Aufmerksamkeit gefunden haben, denn ebenso wie der anonyme spätantike Autor der Theosophie wollte auch Reuchlin zeigen, daß die außerchristlichen Quellen mit den biblischen Texten in Einklang stehen und die Wahrheit des christlichen Dogmas bezeugen; dies ist das zentrale Anliegen seiner philosophischen Dialoge De verbo mirifico und De arte cabalistica. Dabei war er davon überzeugt, daß zumal in Philostrats Apollonios-Vita Zeugnisse enthalten seien, die – aller heidnischen und christlichen Polemik zum Trotz – auch für christliche Leser von Wert sind. Reuchlin war sich mit dem anonymen Autor der Theosophie einig: “Wer diese Zeugnisse beseitigt, beseitigt auch Gott, der sie verursachte.” 13
III. JOHANNES TRITHEMIUS, DOKTOR FAUST UND DER DÄMONISCHE PUDEL
Doch von der spätantiken Theosophie noch einmal zurück oder (besser gesagt) voraus ins frühe
16. Jahrhundert, damit wir uns endlich – wie eingangs angekündigt – des Pudels Kern nähern: Johannes Trithemius ist „Magister Georg Sabellicus Faust dem Jüngeren, dem Quellbrunn der Nekromanten, Astrologen, Zweiten der Magier, Chiromanten, Aeromanten, Pyromanten und Zweiten in der Hydromantie“ (so soll sich der historische Doktor Faustus selbst bezeichnet haben) nie begegnet: Angeblich war Faust vor ihm geflohen, als er hörte, daß der berühmte Sponheimer Abt sich ganz in der Nähe aufhielt. So berichtet es zumindest Trithemius selbst in seinem Brief an den Heidelberger Mathematiker und Hofastrologen JohannesVirdung. Dieser Brief vom 20. August 1507 bildet eines der wichtigsten Zeugnisse über den historischen Faust, der ja – wie Ihnen bekannt sein dürfte – vermutlich in Knittlingen geboren wurde und sich unter dem Abt Johann Entenfuß im Kloster Maulbronn als Alchemist dem Goldmachen gewidmet haben soll. Trithemius war Ende Mai oder Anfang Juni 1506 auf der Rückreise von Berlin nach Heidelberg in der alten Reichsstadt Gelnhausen abgestiegen. Der zur gleichen Zeit dort logierende „Landstreicher, Schwätzer und betrügerische Strolch, der es verdient, ausgepeitscht zu werden, damit er nicht weiterhin besinnungslos frevelhafte und der heiligen Kirche entgegengesetzte Dinge unter das Volk zu streuen wage“ (so äußerte sich Trithemius über Faust), habe durch niemanden überredet werden können, dem Mann der Kirche unter die Augen zu treten, sondern soll vielmehr Reißaus genommen haben.
Trithemius berichtet in seinem Brief weiter, Faust habe sich gerühmt, ein derart großes Wissen angehäuft zu haben, daß er kraft seines Genies alle Werke des Plato und Aristoteles zusammen mit ihrer gesamten Philosophie in verbesserter Form wiederherstellen könnte, falls sie einmal komplett zugrunde gehen sollten; ferner habe er die Wunder Christi, des Erlösers, als nicht staunenswert bezeichnet und sich anheischig gemacht, sie nach Belieben zu wiederholen; auch habe er sich als den größten und vollkommensten Alchemisten aller Zeiten bezeichnet. Während Trithemius diese Äußerungen Fausts in Bausch und Bogen verdammt und sie als verblendete Prahlerei abtut, hatte er in seinen Klosterchroniken von den nicht sehr verschiedenen Selbstanpreisungen Giovanni Mercurios mit spürbar größerer Sympathie berichtet. Warum verübelte er Faust, was er bei Giovanni Mercurio zu bewundern schien? Was Trithemius an Faust abstoßen mußte, war die Popularisierung, Profanierung und Kommerzialisierung eines Geheimwissens, das auch nach der Auffassung Giovanni Picos und Reuchlins einem engen Kreis von Eingeweihten vorbehalten bleiben mußte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Sie daher um Verständnis bitten, wenn auch ich aus Gründen der Geheimhaltung hier nicht konkreter auf Zaubersprüche und magische Riten eingehen konnte und kann: Ich bin leider nicht autorisiert, Ihnen von diesen letzten Geheimnissen unserer schon weitgehend entzauberten Welt Mitteilung zu machen. Derlei Dinge müssen auch weiterhin in kleinen Zirkeln verhandelt werden und gehören weder in die Zeitung noch auf ein PZ-Forum. Möglicherweise ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß die Löblichen Singer so gut wie nie singen – wenigstens nicht in der Öffentlichkeit. Die alten magischen Pestlieder, die sie im 16. Jahrhundert zuverlässig vor Ansteckung bewahrt haben, sollen den Uneingeweihten offenkundig verborgen bleiben.
Auch Cornelius Agrippa von Nettesheim hat seine kompendiöse Abhandlung über die Magie auf Anraten seines Lehrers Trithemius mehr als zwanzig Jahre lang nur handschriftlich im engeren Freundeskreis zirkulieren lassen, bis er sich dann doch zu deren Veröffentlichung entschloß. Nachdem De occulta philosophia aber 1531 in Antwerpen und schließlich in einer stark erweiterten Form 1533 in Köln gedruckt worden war, dauerte es nicht mehr lange, bis der Ärger begann und sich Agrippas Ruf als gefährlicher archimagus und als Urheber böser Hexerei ausbreitete. Der Renaissance-Dichter Christopher Marlowe stellte den Protagonisten seines vermutlich um 1593 verfaßten Dramas The Tragical History of Doctor Faustus entsprechend ebenfalls als einen Schüler Cornelius Agrippas dar. Die bei den zeitgenössischen Inszenierungen von Marlowes Stück verwendeten Teufelsmaschinerien kann man sich nicht eindrucksvoll genug vorstellen. Nach Frances Amelia Yates Schilderung rasten dabei zottige Teufel „mit Knallfröschen im Mund brüllend über die Bühne; Trommler produzierten in den Kulissen Theaterdonner und Techniker erzeugten am Bühnenhimmel künstliche Blitze. In einem Bericht aus dem
17. Jahrhundert heißt es [sogar], daß bei einer Faust-Vorstellung zur Zeit Königin Elisabeths der Teufel leibhaftig auf der Bühne erschienen sei.“ 14
Der französische Staatstheoretiker und Hexenrichter Jean Bodin bezeichnet Agrippa von Nettesheim in seinem Werk De la démonomanie des sorciers, das ab 1581 unter dem Titel Vom außgelasnen wütigen Teuffelsheer allerhand Zauberern, Hexen und Hexenmeistern auch mehrmals in deutscher Sprache gedruckt worden ist, als den größten Zauberer seiner Zeit:
„Aber der Agrippa von Netteßheim/ […] hat die obberührte Zauberzeichen auß eiteler vorsetzlicher Gottlosigkeit gebraucht. Dann er ist der größt Zauberer/ so zu seiner zeit gelebt/ die tag seines lebens allzeit geblieben. Unnd gleich auff seinen Todt (wie der Comisch Bischoff Paulus Iovius, unnd Philippus Melanthon, unnd andere von ihme geschriben) hat man wargenommen/ daß ein schwartzer hund/ welchen er der Agrippa stäts seinen Monsieur und herrn genendt/ zu Lyon auß seiner kammer gangen/ und in den Fluß Rhodano oder Rhosne sich undergeduncket habe/ und demnach forthin nicht mehr sey gesehen worden.“ 15
Dieser mysteriöse schwarze Hund Cornelius Agrippas ist das Vorbild des schwarzen Pudels, den Goethe im ersten Teil seines Faust-Dramas auftreten läßt und der sich dann als kein anderer als der Teufel Mephistopheles herausstellt. In Vers 1323 von Goethes Drama ruft Faust nach der Rückverwandlung des zugelaufenen Hundes in den menschengestaltigen Teufel aus: „Das also war des Pudels Kern!“ Der Vers ist im Deutschen zu einem geflügelten Wort geworden, ohne daß den meisten Benutzern dieser Redewendung immer ganz klar wäre, daß diese Worte von Goethe stammen. Das Motiv des in einen Pudel verwandelten Teufels aber geht zurück auf Cornelius Agrippa von Nettesheim und seinen schwarzen Hund und knüpft somit unmittelbar an das Zeitalter und den Lebenskreis Johannes Reuchlins an.
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Reuchlin, Trithemius, Agrippa von Nettesheim, Faust: Das magische Dreieck zwischen Pforzheim, Fausts Geburtsort Knittlingen und dem Kloster Maulbronn ist eine gleichsam mythische Zauberwelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es Ihnen künftig gelingen sollte, ihren Anschlußzug in Stuttgart noch zu erreichen, obwohl sie erst drei Stunden zuvor am Pforzheimer Hauptbahnhof abgefahren sind, wenn Sie mit Ihrem neuen Handy nicht nur fotografieren, ins Internet gehen oder sich die Zähne putzen, sondern auch telefonieren können, wenn Sie plötzlich das Gefühl haben, Ihre Gehaltsabrechnungen oder Ihren Steuerbescheid erstmalig wirklich zu verstehen, dann glauben Sie bitte nicht, daß das in der sogenannten Pünktlichkeitsoffensive der Bahn, im Innovationsdruck der freien Marktwirtschaft oder in einem Streben nach mehr Transparenz bei behördlichen Dokumenten begründet liegt. Der Grund für derartige Ausnahmezustände ist vielmehr stets und immer wieder: reine Zauberei.
1 Dieser am 4. November 2007 in Pforzheim gehaltene Vortrag behandelt zum größten Teil Themen und Texte, die bereits in meiner im Wintersemester 2006/07 eingereichten Göttinger Dissertation verarbeitet sind. In der vorliegenden schriftlichen Fassung des Vortrags sind zumeist nur wörtliche Zitate belegt, während für die genauen bibliographischen Nachweise der behandelten Ereignisse, Personen und Werke auf die Anmerkungen, das Literaturverzeichnis und die Register der Druckfassung der Dissertation verwiesen sei: Matthias Dall’Asta: Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist. Zur Rezeption von Philostrats Vita Apollonii in der Renaissance, Heidelberg 2008.
2 Vgl. Johannes Reuchlin: Briefwechsel, hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 3, bearb. von Matthias Dall’Asta / Gerald Dörner, Stuttgart – Bad Cannstatt 2007, S. XLIIIf. mit Anm. 128.
3 Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, hrsg. von August Buck, Wiesbaden 1992 (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 12), S. 1.
4 Vgl. Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science, 8 Bde., New York 1923–1958; Frances Amelia Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; Daniel Pickering Walker: Spiritual and demonic magic. From Ficino to Campanella, London 1958; ders.: The Ancient Theology. Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth Century, London 1972.
5 Ludwig Geiger: Johann Reuchlin. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871, S. 195.
6 Charles Zika: Reuchlin und die okkulte Tradition der Renaissance, Sigmaringen 1998
(= Pforzheimer Reuchlinschriften 6).
7 Johannes Reuchlin: Sämtliche Werke, Bd. I, 1: De verbo mirifico – Das wundertätige Wort (1494), hrsg. von
Widu-Wolfgang Ehlers / Lothar Mundt / Hans-Gert Roloff / Peter Schäfer unter Mitwirkung von Benedikt Sommer, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996 (= Berliner Ausgaben), S. 151.
8 Vgl. Lazzarellis um 1490 in Mailand erschienene Epistola Enoch (Originaltitel: Epistola ad omne humanum genus), die in einem einzigen bis jetzt bekannt gewordenen Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek in München erhalten ist (Signatur: 3 an 4° Inc. s. a. 1805).
9 Vgl. oben Anm. 1.
10 Johannes Reuchlin: Sämtliche Werke, Bd. I, 1 (wie Anm. 7), S. 151.
11 Paraphrase nach Ursula Weisser: Das Buch über das Geheimnis der Schöpfung von Pseudo-Apollonios von Tyana, Berlin / New York 1980 (= Ars Medica. Texte und Untersuchungen zur Quellenkunde der Alten Medizin III 2), S. 74f.
12 Vgl. Theosophorum Graecorum Fragmenta, hrsg. von Hartmut Erbse, Stuttgart 1995 (= Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Theosophia Tubingensis § 44, S. 29; dt. Übersetzung nach Dietrich Berges / Johannes Nollé: Tyana. Archäologisch-historische Untersuchungen zum südwestlichen Kappadokien, Teil 2, Bonn 2000 (= Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien 55), S. 417f.
13 Dt. Übersetzung nach Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. von Hubert Cancik / Helmuth Schneider / Manfred Landfester, 16 Bde., Stuttgart / Weimar 1996–2003, Bd. 12/1, Sp. 405. Vgl. Theosophorum Graecorum Fragmenta (wie Anm. 12), Theosophia Tubingensis § 7, S. 4.
14 Frances A. Yates: Die okkulte Philosophie im elisabethanischen Zeitalter, Amsterdam 1991 (engl. Originalausgabe London 1979), S. 134.
15 Zitiert nach der Ausgabe Jean Bodin: Vom außgelasnen wütigen Teuffelsheer allerhand Zauberern, Hexen und Hexenmeistern, dt. Übersetzung von Johann Fischart, Straßburg: Bernhart Jobin 1591.
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