„Sehen wir Pforzheim!“
Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in Pforzheim: Das Beispiel des „23. Februar 1945“

Vortrag
Dr.
Christian Groh, Pforzheim
anlässlich der Matinee zur Stadtgeschichte am 04.03.2007

  • .Im Haus der Jugend wurde am 22. Februar eine Fotoausstellung über das alte Pforzheim eröffnet, die Kinder und Jugendliche nach Recherchen in Stadtmuseum und Stadtarchiv selbst zusammengestellt haben.
  • Der „Freundeskreis für Deutschland Pforzheim“ hielt am 23. Februar eine mit nazistischer Symbolik aufgeladene Mahnwache.
  • Die Antifa Pforzheim hatte seit Januar zu einer Aktion gegen diese „Nazi-Mahnwache“ aufgerufen.
  • Am 6. Februar beschloss der Gemeinderat der Stadt bei zwei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen eine Resolution, in der „Rechtsextremismus entschieden abgelehnt und die geplante ‚Mahnwache’ des Freundeskreises als unvereinbar mit dem Sinngehalt des Gedenktages“ bezeichnet wird. Vielmehr liege die Symbolkraft des Gedenktages „im Bekenntnis zu Frieden, Gewaltverzicht und d
    er Abkehr von gewaltbereiten Ideologien.“
  • In der Innenstadt erinnerten Bildtafeln an das Aussehen des jeweiligen Ortes nach dem Angriff 1945.
  • Am Abend des 23. Februar läuteten zur Stunde des Angriffs vor 62 Jahren die Kirchenglocken in der Stadt.
  • Um 12 Uhr am 23. Februar hielt die Nagelkreuzgemeinschaft eine Versöhnungsandacht in der Stadtkirche.
  • Auf dem Hauptfriedhof versammelten sich mehr als 400 Menschen, gedachten der Toten des 23. Februar und lauschten den Worten von Oberbürgermeisterin Augenstein sowie von Pfarrer Albert Schwarz, dem Gebet von Dekan Hendrik Stössel.

Die Auflistung, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt dreierlei:

Erstens: die Erinnerung an den 23. Februar 1945 ist in weiten und unterschiedlichsten Kreisen der städtischen Gesellschaft präsent.

Zweitens: die Formen der Erinnerung divergieren und

Drittens: sie sind auch heute nicht unumstritten und bleiben Gegenstand politischer, leider zuweilen sogar physischer Auseinandersetzung, wenn sich beispielsweise „rechte Fackelträger“, „linke Autonome“ und Polizei gegenüber stehen.

Die Erinnerung an den Luftangriff auf Pforzheim vor nunmehr 62 Jahren ist auch schon in den Jahrzehnten zuvor aufrecht erhalten und gepflegt worden. Die vor wenigen Jahren von einigen Autoren aufgestellte und von vielen Medien dankbar aufgegriffene These vom Tabu des Bombenkriegs ist falsch.

Sie wurde aber gerne benutzt, um die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, das zuvor eher im Schatten anderer Gegenstände gestanden hatte, allerdings nicht ohne Grund, wie wir sehen werden!
Dabei sind Motive der verkaufsfördernden Werbung und des Marketing durch Verlage nicht von der
Hand zu weisen. Wer heute noch auf dem Buchmarkt auffallen will, muss sich etwas einfallen lassen.
Eine einfache Suche nach dem Stichwort „Bombenkrieg“ auf „amazon.de“, einer Buchverkaufsseite im Internet, ergibt 174 Treffer.

Angeführt wird die Liste, die auch Filme von „SPIEGEL-TV“, Sonderausgaben des SPIEGEL, GEO, STERN und anderen Magazinen enthält, vom 2002 erstmals erschienenen Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich. Obwohl wissenschaftliche Literatur über den Luftkrieg schon Jahre zuvor erschienen war,
wirbt sein Verlag damit, „die erste umfassende Darstellung dieser Katastrophe“ herauszugeben.
Die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, habe „trotz ihrer beispiellosen Dimension im nationalen Gedächtnis der Deutschen kaum Niederschlag gefunden“.

Die These eines Tabus stammt von dem Schriftsteller und Essayisten Winfried Sebald, der in
Vorlesungen an der Universität Zürich 1997 der deutschen Nachkriegsliteratur den Vorwurf gemacht
hatte, „vor dem Grauen des Luftkriegs versagt“ zu haben . Eine ganze Generation deutscher Autoren, so Sebald, sei unfähig gewesen, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis“ .

Tatsächlich aber hatte es schon früh Autoren gegeben, die über den Luftkrieg schrieben. Zwar waren literarische Werke, die sich ausschließlich dem Luftkrieg widmeten, selten, doch wurde das Thema durchaus in Romanen, Kurzgeschichten, Essays oder Gedichten aufgegriffen. Bereits 1947 veröffentlichte Hans Erich Nossack in einer Sammlung von Kurzprosa und Erzählungen „Der Untergang“ , einen autobiographischen Bericht über die Bombardierung Hamburgs im Juli 1943. Hamburgs Zerstörung ist auch thematisiert in einem Gedicht sowie zwei Erzählungen von Wolfgang Borchert , dem Autor des berühmten Nachkriegsdramas „Draußen vor der Tür“.

Ein Beispiel für ein literarisch durchaus gelungenes Werk über den Bombenkrieg, das aber wenig erfolgreich war, ist Gert Ledigs Roman „Vergeltung“ . Die schonungslose und eindringliche Schilderung einer Bombennacht hatte der Stalingrad-Veteran Ledig, der bei einem Krankenurlaub eine Bombennacht
in München mit erlebt hatte, bereits in den ersten Nachkriegsjahren geschrieben. Sein Roman wurde 1956 erstmals veröffentlicht, bevor er bis Ende der 1990er Jahre vergessen blieb. Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ hatte nach Erscheinen der Erstausgabe kritisiert, der Roman verlasse „den Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren“ . Gleichwohl war es gerade das Verdienst des Autors, das Unglaubwürdige und Unzumutbare, das er und mit ihm Tausende andere hatten erleben müssen, zum Ausdruck gebracht zu haben. Was in den persönlichen Erinnerungen zum Selbstschutz und zum Schutz
der Gesprächspartner, nicht selten Heimkehrer oder Kinder, ausgelassen wurde, das benennt Ledigs Roman in einem nüchternen, emotionslosen Berichtsstil.

In kurzen, einander abwechselnden Episoden schildert der Roman „Vergeltung“ die Erlebnisse verschiedener Personen in nur einer Stunde einer Bombennacht. Ledigs Buch liest sich trotz der knappen und präzisen Sprache nicht leicht, was mit dem Geschilderten zusammenhängt, doch drückte er genau das aus, was „elf Jahre nach Kriegsende noch unmittelbar in den Körpern der Leser steckte“, nämlich die „körperlich-affektiven Reflexe auf die hereingebrochene Gewalt“, so 1956 der Rezensent der Frankfurter Rundschau .

Anders als „Vergeltung“ wurde ein anderer Roman Gert Ledigs, „Stalinorgel“, ebenfalls literarischer Ausdruck von selbst Erlebtem, schon in den 1950er Jahren gelesen. Ein Rezensent der Neuauflage von „Vergeltung“ schrieb im Jahr 1999: „In den Gründerjahren der Bundesrepublik wollte man solche ‚Perversitäten’ und ‚gewollt makabre Schreckensmalerei’, die jeden ‚positiv gerichteten Ausblick vermissen’ lassen, nicht mehr lesen. Der Soldatentod an der Ostfront in der Stalinorgel war noch zu tolerieren, nicht mehr die Tötung von Frauen und Kindern im Bombenkrieg.“

„In den brodelnden Qualm rannte der Truppführer vom Hochbunker wie eine Maschine. Er atmete ein, preßte die Lippen aufeinander, schloß seine Augen. Mit dem Kopf prallte er gegen eine Verkehrstafel. Taumelte. Fiel mit ausgebreiteten Armen vom Gehweg. Auf die Fahrbahn. In den flüssigen Asphalt. Es zischte. Der Teer warf Blasen. Von Schmerz gepeinigt, wälzte er sich als schwarzer Klumpen in zäher Masse. Er schrie nicht, kämpfte nicht. Seine Bewegungen dirigierte die Hitze. Sie krümmte ihn zusammen, warf seinen Kopf hoch. Sie breitete seine Glieder auseinander, als umarme er die Erde. Er glich keinem Menschen mehr, er glich einem Krebs. Er starb nicht nach einer Todesart, die bereits erfunden war. Er wurde gegrillt.“

Wer von denen, die im Bombenkrieg Zeugen ähnlicher Szenen geworden waren und sich nun gut zehn Jahre später allmählich wieder im wachsenden Wohlstand zwischen Nierentisch und Fernsehschrank einrichteten, wollte so etwas lesen? Wer wollte es hören und schließlich wer wollte darüber sprechen?
Wer erzählte schon gerne von der eigenen Angst und Passivität? Denn die Nächte in den Schutzkellern boten keinen Hintergrund für Heldenerzählungen, noch weniger für im Rückblick heitere Geschichten.
Das Verdrängen der eigenen Hilflosigkeit während traumatisierender Ereignisse ist ein Symptom der Bewältigung des Geschehenen. Die Psychiaterin Luise Reddemann berichtet, dass die Ohmacht, das Ausgeliefertsein, das Fehlen jeglicher eigener Handlungsmöglichkeiten angesichts einer aussichtslosen Situation für die betroffenen Personen unerträglich sei , und angesichts der Bomben, die auf die Stadt fielen, mussten sich die Menschen hilflos fühlen. Der US-amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut, Augenzeuge der Bombardierung Dresdens, die er in seinem Roman „Slaughterhouse No. 5“ verarbeitete, schilderte diese Hilflosigkeit: „Bombardiert zu werden ist eine außerordentlich passive Angelegenheit.
Es gibt nichts, was man tun kann – außer vielleicht zu den Bomben zu sprechen. Man hat als Überlebender auch nichts, worauf man stolz sein könnte.“

Das Erlebnis, das das Trauma hervorgerufen hat, kehrt in Albträumen oder in ähnlichen Situationen wieder. Albträume aber versuchen die meisten Menschen während des Tages abzuschütteln, nicht mitzuteilen. Erzählungen aus der Nachkriegszeit, vom Hamstern und Kohleklau, vom „Ärmelhochkrempeln“ und vom Wiederaufbau waren leichter zu erzählen als die eigene Angst, die Hilflosigkeit im Luftschutzkeller oder
auf der Straße zu schildern, eben weil sich hier die eigene Leistung, selbstbestimmtes Handeln hervorheben ließ.

Es gab also durchaus Literatur über die Bombennächte, nur lesen wollte sie niemand. Der angebliche Mangel an mündlichen oder schriftlichen Erzählungen über die Bombennächte, vielmehr deren Ignorieren, mag auch damit zusammen hängen, dass es überwiegend ältere Menschen sowie Frauen und Kinder waren, die sie durchlitten hatten. Die von den Kriegsschauplätzen oder aus Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männer hatten mit ihrer persönlichen Vergangenheit weiter zu kämpfen, schwiegen sich
aus und wurden aus Rücksichtnahme von ihren Familien selten mit den Kriegserlebnissen in der Heimat beschwert .

Zudem galt es, irgendwie weiter zu leben: „Es hat keiner gefragt, ob es Dir etwas ausmachte. Es ging nur vorwärts!“, so ein Zeitzeuge der Pforzheimer Bombennacht in einer Fernsehdokumentation . Wichtig war zunächst, die nackte Existenz zu sichern, ein Dach über den Kopf zu bekommen, nach überlebenden Verwandten, Bekannten und Nachbarn zu forschen. Hernach ging es ans Aufräumen, Trümmer beseitigen und wieder Aufbauen. Bei all dieser Geschäftigkeit blieb keine Zeit für die Pflege des eigenen Ich oder psychische Verarbeitung.

Es war also nicht eine gewollte „Amnesie“, wie Sebald das angebliche Schweigen über die Bombennächte bewertet hat , sondern allenfalls eine Verdrängung als psychische Reaktion, der unbewusste Umgang mit einer seelischen Verletzung, der die meisten Menschen daran hinderte, Konkretes zu berichten, und der
die ablehnende Haltung gegenüber einem Roman wie „Vergeltung“, aber auch das verhaltene Reden über das Thema des Luftkriegs überhaupt erklärt. Keineswegs aber wurden die Erfahrungen in den Bombennächten tot geschwiegen.

Allerdings war die Erinnerung an sie, war vor allem die öffentliche Debatte charakterisiert durch Beschränkungen und Formeln. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten blieb der Diskurs begrenzt in privaten und allenfalls kleinen öffentlichen Kreisen. Gerade in letzteren bestimmten mehr und mehr Formeln und Klischees das Sprechen über den Luftkrieg. Nachdem die Bundesrepublik Mitte/Ende der 1950er Jahre vom ehemaligen Kriegsgegner zum Verbündeten der Westmächte im Kalten Krieg geworden war, wurden Erinnerungen an deutsches Leiden unter Bomben der West-Alliierten ungern öffentlich zum Ausdruck gebracht, sie hätten die neu gefundene Harmonie erheblich stören können . Leichter hatten es hier die Menschen in der DDR, wo die Luftangriffe der Westmächte als Kriegsverbrechen gewertet wurden, die Rolle der Roten Armee hingegen als Befreierin gefeiert.

Außerdem gab es ein nicht gerade geringes Risiko, dass sich die Deutschen angesichts der in den 1950er Jahren immer noch deutlich sichtbaren Kriegsfolgen selbst zu Opfern eines von ihnen selbst entfachten
und mit krimineller Energie bis zum Ende geführten Krieges gerieren und die eigene Schuld für beispiellose Verbrechen in den Hintergrund drängen würden. Max Frisch hatte dieses Risiko schon 1947 geahnt, als
er angesichts des Hungers, Wohnraummangels und allgemeinen Elends in Deutschland schrieb:
„Man kann sich, so schauerlich es ist, auch mit dem Elend brüsten. Ihr armes Volk [die Deutschen, C. G.] ist nicht mehr das herrenhafteste, aber das Volk, das auf dieser Erde am meisten leidet, sofern wir die Juden und die Polen und die Griechen und alle anderen vergessen; es ist das Volk, das von Gott am meisten geprüft wird, woraus hervorgeht, dass Gott mit diesem Volk am meisten vorhat. […]
Warum ist es niemals ein Volk unter Völkern?“

Nun ist es nicht per se falsch, über das eigene Leiden zu sprechen und an es zu erinnern. Aber es wäre falsch, nur an das eigene Leiden zu erinnern und den Kontext zu ignorieren. Weil beides gleichzeitig zu denken so schwierig war, die selbst verschuldete Ursache des Luftkriegs und das daraus resultierende eigene Leiden, wurde es lieber gar nicht angesprochen. Denn den Kontext des Luftkriegs mitzudenken, hätte bedeutet, sich auch mit dem zu konfrontieren, was den Bombenangriffen vorausgegangen war.
Wolf Biermann sagte dazu in einem Interview 2000, die Deutschen hätten ungern über die Bombennächte gesprochen, weil „die meisten Deutschen die gerechte Strafe auf den Kopf gekriegt haben. Sei es, weil
sie Verbrecher, Mörder und Mitmacher waren, sei es, weil sie alles mit angesehen haben und sich nicht tapfer gewehrt haben – also eine Art schuldlose Schuld doch auf ihrer Seele herumtragen. Und das fasst man nicht gern an. […] Weil es so gerecht war! Weil es so gut war, das Schlechte!”

Die Bombennächte waren so einschneidende Erlebnisse für die Überlebenden gewesen, dass dieses traumatische Ereignis fortan immer im Vordergrund stand und eine Erinnerung an das zuvor mindestens erschwerte. Der Gedächtnisverlust nach einer traumatischen Verletzung ist ein in der medizinischen Psychologie nachgewiesenes Symptom.

So nimmt es auch nicht Wunder, dass in Erinnerungstexten, in Büchern, Broschüren oder Zeitungsartikeln das Ereignis selbst, die Folgen in Form von Trümmern und Toten ausführlich behandelt wurden, die Zeit zuvor hingegen selten. In Pforzheim erschien erstmals nach dem Krieg 1946 ein 24-seitiges Heft über Pforzheims „Geschichte und Zerstörung“.

Die knappe historische Darstellung endet in der Chronologie mit der Beschreibung moderner Bauwerke des 20. Jahrhunderts. Daran schließen sich auf der letzten Seite die Worte an: „Nun wurde die gesamte Innenstadt bis auf kleine Reste am Rande und auf die Vororte ein einziges Trümmerfeld, unter dem noch
so mancher Tote aus der Katastrophe des 23. Februar 1945 verschüttet liegt. Die Bewohner stehen noch oft tief bewegt vor der Stätte ihrer vernichteten Habe und vor den Gräbern der vielen Tausenden, die
dem furchtbaren Krieg zum Opfer gefallen sind.“

Der „Krieg“, vielmehr die „Katastrophe des 23. Februar 1945“ taucht wie aus heiterem Himmel auf.
Es gibt keinerlei Erklärung, was dem 23. Februar 1945 voraus gegangen ist, ja, der Angriff selbst bleibt unerwähnt. Ein Unwissender könnte nach der Lektüre auch von einem Naturereignis ausgehen, welches „plötzlich und unerwartet“ eintraf. Von der Vorgeschichte kein Wort: nicht vom Aufstieg der Nationalsozialisten, der nationalsozialistischen Durchdringung der Gesellschaft, der gerne in Kauf genommenen angeblichen Segen des „Dritten Reichs“; kein Wort von der Entfesselung eines Zweiten Weltkriegs, von dessen verbrecherischer Kriegführung, unter deren Deckmantel nicht allein ein Rassenmord, sondern auch die systematische Ausrottung mißliebiger Teile des eigenen Volks begangen wurde; kein Wort darüber, dass schließlich das gesamte wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Kriegführung unterworfen wurde, so dass am Ende Zivilisten vom eigenen Militär, aber eben auch vom Kriegsgegner ins Visier genommen oder deren Tod billigend in Kauf genommen wurde.
Es war einfacher, den Krieg als Katastrophe zu betrachten, als zu erklären versuchen, wie es zu der Trümmerlandschaft um einen herum kommen konnte.

In der Erzählung von der Vergangenheit, die der Autor mit Bildern der Gegenwart illustriert, versucht er, wieder eine Kontinuität herzustellen, die angesichts der Trümmerfelder nicht mehr offensichtlich war.
Das Märchen von der „Stunde Null“ konnte auch deshalb so erfolgreich sein, weil nicht nur das Ende
des „Tausendjährigen Reiches“ und somit ein riesiges Lügengebäude zusammengebrochen war, man
mithin gezwungen wurde umzudenken. Auch das Antlitz der zertrümmerten Städte verstärkte den Eindruck, man stehe an einem Nullpunkt.

Durch das Anknüpfen an die Vergangenheit versuchte der Autor des Büchleins aber auch zu ermutigen.
So endet die Darstellung unter einer Gesamtansicht der zerstörten Stadt, mit den Worten:

„Mut und Hoffnung müssen wieder in alle Herzen einkehren, damit eine neue, schaffensfrohe und schöne Stadt entstehe: unsere Heimatstadt Pforzheim!“

Ein weiteres Merkmal der Erinnerungskultur, wie es später auch in Zeitungen, auf Ausstellungen und in Büchern bis heute verwendet worden ist, sehen wir schon in diesem ersten Büchlein der Nachkriegszeit. Die Gegenüberstellung von altem Stadtbild und Trümmerbildern.

Die Gegenüberstellung von Bildern des alten Pforzheim und denen des modernen, häufig ergänzt durch Bilder der Trümmerstadt, stellen den Versuch dar, eine Beständigkeit über den radikalen Bruch des Krieges herzustellen: eine Kontinuität vom alten untergegangenen baulichen Zustand der Stadt über
den physischen Zusammenbruch bis zu den gegenwärtigen Trümmergrundstücken und Baustellen und schließlich zur Stadt der Gegenwart, die in Pforzheim radikal anders aussieht und von daher ein Anknüpfen an Vergangenes schwerer gestaltet als beispielsweise in Freiburg oder Heilbronn, bei denen an das historische Stadtbild zumindest angeknüpft wurde .

In Pforzheim unterzogen die politisch Verantwortlichen, die Stadtplaner und Architekten die fast 1000jährige Stadt, deren Aussehen freilich vor 1945 bereits mehrfach grundlegenden Wandels ausgesetzt gewesen war, einer weiteren radikalen Erneuerung. Pforzheim wurde zu einer modernen Stadt mit allen Annehmlichkeiten wie schnell verfügbarem günstigem Wohnraum, optimaler Flächenausnutzung, Vorrang des Straßenverkehrs; aber auch mit dem resultierenden und von vielen bis heute so empfundenen Mangel an Ästhetik.

Nicht nur das traumatisierende Ereignis des 23. Februar selbst, sondern auch der längerfristige Bruch zwischen dem Stadtbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem der Nachkriegszeit der 1950er Jahre hat zu einer Entfremdung der Pforzheimer von „ihrer“ Stadt geführt. Ein beteiligter Stadtplaner selbst hat es auf den Punkt gebracht: „Alles ist irgendwo nivelliert, gleichförmig, heterogen und unausgesprochen.“ Auch deshalb sind heute noch oder wieder Bilderserien des historischen Pforzheim, historische Bildbände und Nachbauten historischer Bauwerke so beliebt.

Deshalb wurde der Neubau der „Steuereinnehmerei“ von Oberbürgermeisterin Augenstein als „Geschenk“ bezeichnet. Der städtische Denkmalpfleger Christoph Timm konstatierte, die Stadt kehre mit diesem Bau „zu ihren Wurzeln“ zurück , er formuliert damit eine offensichtlich in Pforzheim vorhandene Sehnsucht nach Tradition. Die alte Stadt, ungeachtet aller Kritik, die schon unsere Vorfahren in den 1920er Jahren an ihr geäußert hatten, wird seit Jahrzehnten idealisiert.

Das moderne Antlitz der Stadt, das nur wenig Anknüpfungspunkte an das „alte“, untergegangene Pforzheim hat, bietet im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wenig Orientierung. Die simple vergleichende geographische Verortung eines beliebigen Standpunkts irgendwo in der Innenstadt des „alten“ Pforzheim ist für den heutigen Besucher oder Bewohner zur Herausforderung des Entdeckers geworden.

Aber auch und gerade im übertragenen Sinne hat der Verlust und der radikale Wandel des Stadtbilds
und des Stadtgrundrisses zur Orientierungslosigkeit beigetragen: wie es die „Pforzheimer Zeitung“ 1965
in einem Artikel über eine der ersten Nachkriegs-Ausstellungen über das „Pforzheim vor dem Krieg“ formuliert hat: „Eine modern gewordene Stadt auf der Suche nach ihrer Seele“ . Bis heute gehtvon den „Trümmerbildern“ eine eigenartige Faszination aus. Sie sind bundesweit, so hat es eine Analyse von Presseveröffentlichungen im „Jubiläumsjahr 1995“ gezeigt, benutzt worden und haben ein eigenes „melancholisches Genre“ geschaffen. Der Autor der Studie spricht von „unzähligen Illustrationen, aber
nur wenigen unterschiedlichen Motiven“. Auffällig dabei sei, und das ist auch in Pforzheim zu beobachten, dass selten Aufnahmen zerstörter Herrschaftsgebäude gezeigt werden . Wohnhäuser, Schulen, Kulturdenkmale wie die Schloss- oder die Stadtkirche in Trümmern, das sind die Motive, die gedruckt wurden und werden. Auf Fotografien von den Gebäuden, in denen zuvor noch nationalsozialistisch
gesinnte oder gleichgeschaltete Beamte den verbrecherischen Willen des NS-Regimes vollstreckt hatten, sind, so sie denn überhaupt abgelichtet wurden, keinerlei Symbole des NS-Staats mehr zu erkennen.

Dies mag kein beabsichtigter Wille der Fotografen gewesen sein – obwohl dies naheliegend ist, denn in
den ersten Wochen nach dem Angriff durften in den Trümmerstädten nur Menschen fotografieren, die
von der Partei hierzu eine Erlaubnis hatten –, aber das Übergewicht an Abbildungen mit zerstörten Privathäusern, sozialen Institutionen oder Sakralbauten hat nach 1945 geholfen, den Kontext, in dem
die Luftangriffe stattgefunden hatten, in den Hintergrund zu drängen und somit die Debatte um Schuld
und Verantwortung zu beeinflussen. Gerne wurde durch das Einbinden zeitloser Motive der Religion
oder der Kunst in die Fotografien versucht, einen aus der Geschichte gerückten Moment der Ewigkeit
zu suggerieren, den Trümmern darum herum zum Trotz.

1949 erscheint in Pforzheim der erste „Erlebnisbericht“ eines Zeitzeugen, wie die bildlichen Gegenüberstellungen ein bis heute beliebtes Element der Erinnerung. Der Autor, Alfons Schler, war als Lehrer 1938 von Baden-Baden nach Pforzheim gekommen. Auch bei Alfons Schler begegnet uns wieder die entlarvende Wortwahl von jenem furchtbaren „Unglück, das fast am Ende des zweiten Weltkrieges über die Bewohner der Stadt mit gewaltigem Ungestüm hereinbrach“ und am Ende, ganz metaphysisch: „Ist es nicht eigenartig, daß die Flugzeuge, die einen alten Menschheitstraum verwirklichen und Menschen und Völker verbinden sollten, zum Schrecken der Menschheit und zu Vernichtungswerkzeugen erster Ordnung geworden sind? Manchmal kommt es mir vor, als ob die Natur sich dafür rächte, daß der Mensch ihr die in ihr schlummernden Kräfte und Geheimnisse entreißt. Die Natur ist eine Schöpfung Gottes, und der Mensch sollte sich ihr mit Ehrfurcht nahen. Sie will nicht ausgebeutet werden, sonst
schlägt sie zurück.“

Hatte die Natur im Zweiten Weltkrieg zurück geschlagen? Hatte, wie es an anderer Stelle im gleichen Büchlein heißt, der „Moloch Krieg“ die Menschen am 23. Februar „verschlungen“? Eine solche
gleichsam fatalistische wie falsche Denkweise, in der die Menschen während der Zeit des Weltkriegs
nicht als handelnde Subjekte, sondern als Leidtragende einer anonymen Menschheitsgeisel „Krieg“ gehandelt werden, verhinderte eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen des Luftkriegs,
aber auch mit eigener Schuld, Sühne und Verantwortung.

Die Lehre, die Schler zieht und die auch die Stadtoberhäupter in ihren Reden später formulieren werden, ist nicht falsch, nämlich dass Krieg nicht der „Vater aller Dinge“ ist, sondern dass „moderne, total geführte Kriege … nicht geeignet [sind], die zwischen den Völkern und Kontinenten bestehenden Probleme …
zu lösen. Kriege sind überhaupt Zerstörer von Werten aller Form, von Menschen und Gütern, von Kultur und Sitte, von Menschlichkeit und Vertrauen.“

Wie hier bei Alfons Schler, können wir auch in den Reden der Oberbürgermeister, besonders aber in späteren Presseberichten über den 23. Februar eine Struktur entdecken: zunächst wird durch die Beschreibung der Trümmer und der Nennung der Opferzahlen Trauer hervorgerufen. Das Gefühl der Trauer wird dann zugleich genutzt, um die Notwendigkeit des Friedenserhalts zu unterstreichen. In einer Analyse tausender von Zeitungsartikeln, die 1995 über den Luftkrieg bundesweit erschienen sind, stellt Klaus Naumann fest, dass der durch die Trauer emotional hervorgerufene „pazifistische Affekt die historische Urteilskraft versiegen lässt, bevor noch Argumente vorliegen.“ Es wird also nicht nachgedacht über die Vorgeschichte der Bombardierung der eigenen Stadt, vielmehr werden die Eindrücke von Bildern und Erzählungen aus den Trümmerstädten genutzt, um jeden Krieg und jegliche Kriegshandlung zu verurteilen.

Am Beispiel Dresdens, das sehr gut auf Pforzheim übertragbar ist, macht Naumann weitere inhaltliche Kernpunkte der Berichterstattung aus: es wird die angebliche Ahnungslosigkeit der Bevölkerung betont. Dabei waren es die Fehlplanungen der eigenen Machthaber, die zu den hohen Opferzahlen führten.
Es wird eine angebliche Sinnlosigkeit des Angriffs betont. Dadurch wird der Angriff auf die eigene Stadt zum Objekt staatsmännischer Willkür oder blinden Hasses. Die Totalität des Krieges, die von allen
Seiten gewünscht war und die zuvor auf anderen Kriegsschauplätzen initiiert worden war , wird dabei ignoriert, als wenn die zivilen Opfer in Industriestädten des Ruhrgebiets, in Hamburg oder in Coventry,
in Berlin oder in Rotterdam mehr Sinn gemacht hätten als die in Dresden oder Pforzheim. Die Wortwahl, die sich gern apokalyptischer und biblischer Bildnisse bedient , rückt die Geschehnisse aus dem Geschichtsverlauf in einen eigenen fast mythischen Bereich und entzieht sie somit einer rationalen Interpretation.

Auch dieser emotional geprägte Umgang hat die historische Aufarbeitung des Luftkriegs lange Zeit verzögert und gestaltet sie bis heute so schwierig. Aber eine Auseinandersetzung mit dem Bombenkrieg fand eben doch in öffentlichen Kreisen, wenn auch geprägt durch Konventionen, statt. Ein Beispiel
hierfür sind die seit 1946 jährlich in Pforzheim abgehaltenen Gedenkfeiern an die Opfer des
„23. Februar 1945“.

Nach ersten Feiern im Oktober 1945 und Februar 1946 beschloss Pforzheims Stadtrat 1947, den
Tag des schlimmsten Bombenangriffs auf die Stadt zu einem allgemeinem Trauertag zu machen.
Am 23. Februar sollte Arbeitsruhe herrschen, um die Menschen zur Einkehr zu bewegen. Der Stadtrat verlangte in einem Beschluss vom 14. Februar 1947 gar von den Arbeitgebern, den durch Teilnahme an der Trauerfeier entstandenen Lohnausfall zu vergüten . Angesichts einer bis dato fehlenden überregionalen Feiertagsregelung war die Erklärung zu einem Gedenktag seitens der Kommune ein gangbarer Weg, aber aus Sicht einer noch danieder liegenden Wirtschaft und im Hinblick auf die aktuellen Erfordernisse des Wiederaufbaus eine durchaus streitbare Verfügung. So verwundert es kaum, dass nur zwei Jahre später, am 9. Februar 1949, der württembergisch-badische Verband der Schmuckwarenindustrie gegen den arbeitsfreien Tag Protest beim Oberbürgermeister einlegte. Ein arbeitsfreier Tag, so argumentierten die Wirtschaftsvertreter, sei nicht im Sinne der Opfer. Der Verband schlug vor, die Gedenkfeier auf den Abend zu verlegen. Die einzige Konsequenz, die man aus der Katastrophe des Bombenangriffs ziehen könne, sei „intensiver Wiederaufbau unserer Stadt, damit endlich auch die letzten Opfer des 23.2.1945
aus den Trümmern geborgen werden können. […] Wir glauben, […] dass besonders intensive Arbeit
an diesem Tage unsere Pflicht gegenüber den Gefallenen besser erfüllt als Arbeitsruhe.“

Die Öffentlichkeit schien in der Frage gespalten, so kritisierte die örtliche Presse in einem Kommentar
vom 8. März 1950, dass an diesem Tag, der doch dem Gedenken dienen sollte, „zahlreiche Betriebe, Ladengeschäfte und sonstige Unternehmen kaum oder gar nicht Rücksicht auf diesen Tag genommen haben.“ Auch ein Leserbriefschreiber in der „Pforzheimer Abendzeitung“ vom 25. Februar 1950 bemängelte, dass viele Betriebe bis 17 Uhr arbeiten ließen, und kritisierte die Form der Gedenkfeier auf das heftigste. Die Überlebenden hätten eine „mehr als klägliche Feier“ miterlebt, sie hätten mit ansehen müssen, „wie der Stadtrat und die Ehrengäste sitzend der Feier und der Kranzniederlegung beiwohnten, […] wie ein Geistlicher sogar den Hut fest auf dem Kopfe behielt, während die anderen Ehrengäste wenigstens den Hut abnahmen. Die Feier war aus, beinahe schon ehe sie begann. […]
Mein Gott, sind wir denn so arm geworden, dass wir nach 5 Jahren mit keiner anständigen Gedenkfeier unsere Toten ehren können […]?“

Konflikte mit den Bedürfnissen der Bevölkerung gab es immer wieder, vor allem, weil der 23. Februar häufig zusammen fiel mit den Höhepunkten der „närrischen fünften Jahreszeit“. 1952 erging nach
Beschluss des Stadtrats über die Presse die Aufforderung an die Bevölkerung, am 23. Februar, der gleichzeitig letzter Faschingssamstag war, auf Veranstaltungen zu verzichten. Kinos und Gaststätten
sollten geschlossen bleiben .

Bei aller Ernsthaftigkeit der Vorbereitung konnte aber offensichtlich die Feier nicht die Bedürfnisse derjenigen erfüllen, die die Bombennacht miterlebt hatten. Die Stadtgemeinschaft, vertreten durch Repräsentanten auf den Gedenkfeiern, konnte mit dem Trauma nicht anders umgehen als mit Äußerlichkeiten. 1965 thematisierte Oberbürgermeister Johann Peter Brandenburg , das Unvermögen, über die Geschehnisse der Bombennacht zu reden: „Der Versuch, jenes Unmaß an Leid und Schmerz zu beschreiben, wird immer im Allgemeinen bleiben müssen.“

Ähnlich wie nach und nach die Wunden des Stadtbildes durch Neubauten zugeschüttet wurden, verdeckten auch die jährlichen Feierstunden auf dem Hauptfriedhof die eigentlichen seelischen Verletzungen der Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Eine zwangsläufig in äußere Förmlichkeiten
gepresste Veranstaltung konnte den Erwartungen der trauernden und verletzten Menschen nicht
gerecht werden.

Umso mehr Bedeutung kam den Reden des Stadtoberhaupts zu, die eine Verarbeitung des Geschehenen zumindest ansatzweise anregen konnten. Die Worte des Bürgermeisters König bei der Gedenkfeier
1950, die er anlässlich der Einweihung der neuen Großgrabsätte sprach, leiteten aus dem Leid der Stadt die Aufgabe der Friedenserhaltung ab. Die Gräber der Pforzheimer Luftkriegsopfer seien der„Wurzelboden“ für ein neues humanitäres Gemeinschaftsgefühl, „das über die Mauern dieser Stadt in den weiten europäischen Raum hineinzuwirken vermag. Von diesem Geiste waren Stadtrat und Stadtverwaltung erfüllt, als sie drangingen, den Opfern […] dieses Mahnmal zu errichten.[ ] […] Unsere heiße Hoffnung auf dieses neue friedliche Europa wird gestärkt, wenn wir in dieser Stunde, die uns mit unseren Toten verbindet, feststellen dürfen, dass mit den trauernden Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt sich heute hier trauernde Hinterbliebene aus benachbarten europäischen Ländern zusammengefunden haben, um gemeinsam mit uns ihrer hier bestatteten Toten zu gedenken. […] Der Mahnruf dieser Toten,
all unsere Kraft einem friedlichen und freien Europa zu weihen, damit ein 23. Februar 1945 sich niemals und nirgends noch einmal in der Welt wiederholen kann, soll zum unabdingbaren Gesetz unseres Lebens und unseres Wirkens werden.“

Die Presseberichte anlässlich der fünften Wiederkehr der Bombennacht waren hauptsächlich geprägt
von einer Wiederaufbaurhetorik und dem Stolz über das seit 1945 Geleistete. Somit sind die wesentlichen Leitmotive aller Gedenkfeiern der fünfziger und sechziger Jahre angesprochen: einer meist floskelhaften oder zumindest wenig variierten Formulierung des Leids der Stadt folgte die Erinnerung an die Pflicht, in der Gegenwart zu wirken, zum einen durch den Wiederaufbau, zum anderen im Sinne eines ideellen Aufbaus durch Einsatz für die Völkerverständigung und den Frieden.

Die Pflicht des Wiederaufbaus und eine grobe Vision der Zukunft versperrten – teils unbewusst, teils gewollt aus Selbstschutz – den Blick auf das traumatische Ereignis. Der Gegenwartsbezug blieb also in allen Reden seit 1945 vorherrschend. Dabei sparten die Stadtoberhäupter nicht mit deutlichen Worten. Schon 1948 kritisierte Oberbürgermeister Brandenburg die verengte Konzentration auf den physischen Wiederaufbau: „Sehen wir Pforzheim! Städte wie Pforzheim dürfen in dieser Zeit eines notwendigen Umbruchs nicht nur als Trümmerstätten Mahnmale sein. Sie sollten darüber hinaus Stätten der Erneuerung unseres inneren und äußeren Lebens werden, sie könnten beispielgebend wirken für die ganze Welt,
wenn sie die Forderungen der Zeit erkennen.“

Und drei Jahre später formulierte er: „Könnten wir auch vor tiefer dringenden Fragen, die zur Mitte und zum Kern der Dinge gehen, offenen Auges bestehen?“ Er tadelte das „Nichtwissen oder Nicht-Wissen-Wollen“ sowie die „Oberflächlichkeit und […] Gleichgültigkeit, mit der man heute draußen über das Schicksal d[ies]er schwer zerstörten Städte und Gemeinden hinweggeht“.

Die Aufforderung des Oberbürgermeisters von 1948: „Sehen wir Pforzheim!“ war nicht nur eine tagespolitische Mahnung im Zuge des Kalten Krieges, sondern gewissermaßen auch gerichtet an eine breitere Öffentlichkeit, über die Schicksale der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg zu reden. Gleichzeitig kann dieser Teil seiner Rede als Versuch gewertet werden, der Stadt und ihrer Bevölkerung durch die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Leids bei der Bewältigung des erlittenen Traumas Hilfe anzubieten.

Brandenburg thematisierte in seinen Reden auch die quasi therapeutische Arbeitswut der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die von den erlittenen Wunden ablenkte. 1954 ging Brandenburg in seiner Gedenkrede erstmals auf die geleisteten Wiederaufbauanstrengungen ein: „Ich bin weit davon entfernt,
die Leistung und das Geschaffene durch diese einschränkenden Worte herabzusetzen; die musste erbracht werden, weil es für uns als Volk und als einzelnen Menschen in den vergangenen Jahren ganz einfach um die Frage des Weiterlebens oder des Verhungerns ging. […] Aber all das enthebt uns nicht der Pflicht
zum Besinnen auf die immer noch gültige Erkenntnis, dass alle noch so großen Leistungen und aller materielle Gewinn letzten Endes in eine Leere führen, wenn wir nicht einen klaren geistigen und sittlichen Standort finden.“

Geschickt ließ sich Brandenburg auch vom Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung lenken.
Als sich zwanzig Jahre nach Kriegsende Stimmen mehrten, die sich gegen die ritualisierte Veranstaltung
am 23. Februar richteten, zog er als Hauptargument die Beteiligung der Bevölkerung ins Feld.
Hans Georg Zier, gebürtiger Pforzheimer und später Leitender Staatsarchivdirektor am Badischen Generallandesarchiv in Karlsruhe, der selbst Eltern und Schwester bei dem Bombenangriff verloren hatte, hatte in einem Brief an Brandenburg vom 1. Juli 1965 angeregt, den 23. Februar nicht mehr „als Todestag zu begehen. […] [W]ir sollten doch nicht immerfort Totengedenken begehen. Dass das Leben siegt und weiter geht, ist doch Tatsache, betrüblich für einen Verzagten, in Wahrheit beglückend für jeden Denkenden.“ In seinem Antwortbrief führte Brandenburg die jährlich 6.000 bis 8.000 Menschen an,
die an der Feier teilnahmen und wertete diese hohe Zahl als „demokratisches Votum“ .

Sechs Jahre nachdem Oberbürgermeister Brandenburg der Vorschlag gemacht worden war, keine Gedenkfeiern mehr zu organisieren, machten sich auf breiterer Ebene Zweifel an der Veranstaltung breit. 1971 war Brandenburgs Nachfolger im Amt, Willi Weigelt zwar anwesend, die Feier wurde aber erstmals ohne seine Rede durchgeführt. Die „Pforzheimer Zeitung“ kritisierte einerseits die „Formlosigkeit“ der sieben- bis achtminütigen Veranstaltung, verzieh diese aber zugleich damit, dass in der Zwischenzeit von nunmehr 26 Jahren eine neue Generation ausschlaggebend und eine Stadt aufgebaut worden war, deren Gesicht nur noch wenig mit dem alten zu tun hatte. Dennoch: „Die Anwesenheit von über tausend Mitbürgern zur ungewohnten Stunde hat gezeigt, dass man mit einem derartigen Kompromiss des
‚So tun, als ob’ nicht weiter kommen kann. Entweder wird man künftig die Stille wählen, die bei aller ‚Formlosigkeit’ mehr individuelle Würde hat, oder man wird zur bisherigen Form zurück kehren müssen, wenigstens so lange, als die Verbindung der Lebenden mit den Toten noch so sichtbar in Erscheinung tritt, wie das gestern morgen auf dem Hauptfriedhof der Fall gewesen ist.“

Tatsächlich kehrten die Verantwortlichen im Jahr darauf zur alten Form zurück, und die „Pforzheimer Zeitung“ kommentierte, dass „auch eine Distanz von 27 Jahren […] den Großangriff […] nicht Geschichte werden“ ließ. Unter den 3.000 Besuchern seien „bemerkenswert viele Angehörige der jungen und
jüngeren Generation“ gewesen.

Die tagesaktuellen Anlässe änderten sich, doch das Grundmuster der Rede des Pforzheimer Stadtoberhaupts blieb das Gleiche: in einer Gegenwart, in der immer noch Kriege ausgefochten würden (1967 erwähnte Weigelt Vietnam, 1969 den Nahen Osten und Biafra, 1972 Kambodscha und Nordirland), gelte es, in Erinnerung an die Toten Pforzheims für den Frieden zu wirken. Wie sein Vorgänger leitete Weigelt aus der „schrecklichen Vergangenheit“ eine Aufgabe für die Gegenwart ab.
Sich dessen bewusst, dass in der Stadt mittlerweile mehr Menschen lebten, die den Krieg gar nicht oder nicht in Pforzheim erlebt hatten als Zeitzeugen des 23. Februar, appellierte er 1966 an das Mitgefühl der Nachwelt, weil „wir als bürgerschaftliche Gemeinschaft auch an einem solchen Tag Verbundenheit brauchen“. Diejenigen, die den 23. Februar hatten erleben müssen, hatten auch eine Verbundenheit erfahren. Lassen wir nochmals Alfons Schler in seinem Bericht zu Wort kommen: „Jeder der Unglücklichen hatte das Bedürfnis, seiner physischen oder seelischen Not irgendwie Ausdruck zu geben und sich mitzuteilen. Und der gemeinsame Schmerz vereinigte die Menschen, die sich vorher nicht kannten, zu
einer Leidensgemeinschaft.“

Mitte der 1960er Jahre wurde nun von OB Weigelt das fatale Datum der Stadtgeschichte instrumentalisiert, um in einer Zeit, die immer individualistischere Züge annahm, wieder ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Zwar ist jedes Gedenken, das sich auf Tote bezieht, ein „in Gruppen konstituiertes Denken“ und somit auch bedeutsam für die Identität der Gruppe, hier also der Stadtgemeinschaft. So deutlich zum Ausdruck gebracht hatte es vor Weigelt allerdings noch niemand.

Auch die Reden von Weigelts Nachfolger Dr. Joachim Becker betonten die Verpflichtung zum Frieden
als Vermächtnis der Toten des 23. Februar. Hatte bereits Weigelt in seinen Reden die Identität der Stadt thematisiert, so erkannte Becker als erster Vertreter einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht bewusst erlebt hatte (Becker ist Jahrgang 1942), dass der 23. Februar 1945 als „historische Zäsur die Identität und das Selbstverständnis der Stadt“ bestimmte. Diese Erkenntnis, erstmals in seiner Gedenkrede am 23. Februar 1986 ausgesprochen, ist das erste Zeichen dafür, dass die Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg als eine Verletzung zu werten ist, die weit reichende Konsequenzen bis in die Gegenwart hat. Gleiches zeigt etwa die Rede vom 23. Februar 1993, als Becker erkannte, dass der zunehmende Abstand von nahezu einem halben Jahrhundert die Erinnerung „lebhafter und wahrhaftiger“ mache. Traumatische Ereignisse werden, das ist auch durch die Psychologie erwiesen, oft erst lange Zeit später in der Erinnerung manifest, sie waren aber dennoch all die Jahre sowohl für die Individuen als auch für die Stadt als Gemeinschaft präsent und sogar bestimmend für den Umgang mit der Gegenwart.
Der traumatischen Verletzung bewusst wurde sich die breitere Öffentlichkeit Anfang der 1990er Jahre, davon zeugen zumindest die zitierten Worte des Oberbürgermeisters.

Seit dieser Zeit, dies ist auch bundesweit zu beobachten, hat sich der Umgang mit der Vergangenheit
des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus verändert, Naumann spricht sogar im Zusammenhang mit dem Gedenken an die 50. Wiederkehr des Kriegsendes 1995 von einem „geschichtspolitischen Novum“ .

Vermehrt und deutlicher vernehmbar wurde nun auch an Leiden der Deutschen, konkret an Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung erinnert. Gleichzeitig wurde an anderen angeblichen Tabus gerührt. Einerseits wurde erstmals in größerem Maße an die Luftkriegsopfer und die von Vertreibung und Flucht betroffenen Deutschen erinnert, andererseits entlarvte man nun die Legende von der durch und durch „sauberen“ Wehrmacht. Wenn an deutsche Opfer erinnert wurde, wurde häufig betont, man wolle und dürfe nicht „aufrechnen“. Allein die häufige Ermahnung daran aber ist ein Zeichen für die Brisanz, die im Gedenken
an deutsche Opfer immer noch lag und liegt .

Deshalb wurden 1995 auch noch kritische Fragen gestellt, ob es richtig sei, dass Bundespräsident Roman Herzog am 13. Februar in Dresden rede, ob man überhaupt von offizieller Seite der Luftkriegstoten gedenken sollte. Zehn Jahre später ist dies keine Diskussion mehr wert. Im Jahr 2005 gesellten sich zu
den Bundespolitikern, die in Dresden weilten, auch Verteter der damaligen Kriegsgegner. In Pforzheim sprach der britische Botschafter, Sir Peter Torry und legte Wert auf die „außergewöhnliche Fähigkeit der Menschen zur Versöhnung und zum Wiederaufbau“.

In der jüngsten Zeit gesellen sich zu den rituellen Formen des Erinnerns Veranstaltungen anderer Natur. Zusätzlich zu den Gedenkstunden und Kranzniederlegungen finden nicht nur Lichterketten und Friedensdemonstrationen, sondern auch Ausstellungen, Diskussionsforen, Schulveranstaltungen und dergleichen mehr statt. Der sechzigste Jahrestag der Bombardierung wurde in Pforzheim mit einem breiten Rahmenprogramm begleitet, zu dem Ausstellungen von Schülern gehörten, eine Podiumsdiskussion mit renommierten Wissenschaftlern und vieles andere mehr.

Neben Denkmalen und Erinnerungsorten sind auch diskursive Praktiken, sind das Vermitteln und das Diskutieren über die Geschehnisse ebenso Element von Erinnerungskultur. Zur Erinnerung gehört die Erforschung und stetige Neubewertung, die Diskussion über die Vergangenheit. Die in der Bundesrepublik seit 1990 geführten Debatten – über die jüngste Vergangenheit, über das Holocaust-Denkmal, über die Verbrechen der Wehrmacht, über die Vertreibung, um nur wenige Beispiele zu nennen – haben, so kontrovers sie auch geführt wurden, den Konsens hervor gebracht, dass ein kritisches Erinnern nicht für beendet erklärt werden kann, sondern dauerhafter Bestandteil der politischen Kultur sein muss.

An den Luftkrieg wurde schon in den Jahren zuvor erinnert, doch nimmt er seit 1995 einen breiteren Raum im bundesweiten Erinnern ein . Im Frühjahr 2005, sechzig Jahre nach Kriegsende und sechzig Jahre nachdem zunächst Dresden und zehn Tage später Pforzheim ein nahezu identisches Schicksal zu erleiden hatten, ließ sich ein Kommentator sogar zu der Formulierung verleiten, „Deutschland sei mit Dresden bombardiert“ worden.

„Erinnerungskultur“ ist auch das Repertoire, aus dem eine Gemeinschaft ihre eigene Herkunft, ihre Identität definiert . Dabei werden Elemente unbewusst vergessen, bewusst verschwiegen oder verdrängt oder eben in den Mittelpunkt gestellt. Der 23. Februar 1945, so einschneidend er war, ist nur ein Datum in einer langen Stadtgeschichte. Wir sollten die Frage stellen, welche weiteren identitätsstiftenden Ereignisse es in der Stadtgeschichte zu entdecken bzw. weiter in den Vordergrund zu rücken gilt.

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