Für Kommerz, Kommune und Kirche
Pforzheims Oberschichten im Mittelalter
Vortrag
Dr. Stefan Pätzold, Wissenschaftlicher Archivar im Stadtarchiv Pforzheim
anlässlich der 3. Matinee am 10.04.2003
In einer Urkunde aus dem Jahr 1258 versprachen der Pforzheimer Schultheiß, die Ratsherren und Geschworenen sowie die Bürger von Pforzheim, daß sie die dem Kloster Maulbronn vom badischen Markgrafen Rudolf gewährte Befreiung von Zoll und Ungeld (das ist eine Form der Besteuerung von Verbrauch und Verkehr) innerhalb der Stadt respektieren würden. Insgesamt wurden dabei zwölf Bürger als Aussteller namentlich genannt. Es waren dies: Schultheiß Erlewin und Albert Weis, Eberhard Liebener, Heinrich in Monte, Hugo, der Sohn des Heinrich Magnus, Sifried von Heimsheim, Heinrich von Durlach, Albert Institor, Heinrich von Vaihingen, Eberhard Hoppho, Heinrich Snapel [und] Heinrich, der Sohn Diethers, als Ratsherren und Geschworene (auf lateinisch: consules et iurati) der Stadt Pforzheim. Einige dieser Namen begegnen – erneut an exponierter Stelle – in einem Stück von 1295 wieder: Man trifft auf einen Albert Weis (wobei offen bleiben muß, ob es derselbe ist wie 1258 oder aber ein gleichnamiger Verwandter) sowie auf Angehörige der Familien Liebener, von Durlach sowie von Vaihingen. Augenscheinlich gelang es diesen Familien über Jahrzehnte hinweg, in Pforzheim einflußreich zu bleiben.
Im Folgenden soll es nun nicht um die Leistungen der einzelnen Männer und Geschlechter oder um genealogische Zusammenhänge gehen. Vielmehr werden die genannten Personen hier als politisch führende Gruppe und somit als Oberschicht innerhalb der städtischen Gesellschaft aufgefaßt und als solche untersucht.
Deshalb hat man sich nun zunächst darüber zu verständigen, was unter einer ‚(Gesellschafts-) Schicht‘ zu verstehen ist. Nach sozialgeschichtlichen Begriffen meint man damit „eine sich horizontal durch ein soziales System hindurchziehende Anzahl von Personen, die aufgrund der Wertung bestimmter Merkmale als ungefähr gleichwertig und im Vergleich zu anderen Gruppen als höher oder tiefer, darüber oder darunter stehend gelten. Bietet die Differenzierung gemäss einer solchen sozialen Wertschätzung einen subjektiven Aspekt, so sollen die spezifischen Lagemerkmale, die die Lebenslage der Schichtangehörigen kennzeichnen als objektiv hinzugenommen werden. Dabei gibt es innerhalb einer Schicht Untergruppen mit verschiedener Wertung […]“. Eine Oberschicht ist demnach eine der Mittel- beziehungsweise der Unterschicht übergeordnete Personengruppe. Die zahlenmäßig kleine Oberschicht bestand vornehmlich aus (Groß- und Fern-) Kaufleuten, seltener aus besonders qualifizierten und wohlhabenden Handwerkern wie Goldschmieden und Kürschnern.
Zu den Kennzeichen der städtischen Oberschicht gehörte als erstes der Reichtum. Denn nur wer frei war von dem Zwang, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, konnte Aufgaben im Dienst der Stadt übernehmen. Solchen Wohlstand zu erwerben, war zumeist nur durch Handel und Unternehmertum möglich. Oberschichtangehörige waren somit zumeist Kaufleute, zumal man im Mittelalter körperliche Arbeit gering achtete und die Handelsherren in der Regel auf eine Abgrenzung von Handwerkern großen Wert legten. „Abkömmlichkeit“, wie Max Weber es formuliert, war somit die unabdingbare Voraussetzung dafür, „politische, administrative und judikative Aufgaben für das Gemeinwesen in Rat, Gericht, in Ämtern und in der Diplomatie zu übernehmen“, weil die städtischen Aufwandsentschädigungen die Kosten für eine Amtsausübung nicht auch nur annähernd deckten. So kennzeichneten der prestigeträchtige Habitus des Handelsherrn und kaufmännische Standesehre die Oberschichtangehörigen. Hinzu kam noch etwas anderes: Zum Dienst für die Kommune gehörte die Mitwirkung bei ihrer Verteidigung. Hierbei fungierten die Mitglieder der städtischen Führungsschicht als Hauptleute und stellten das berittene Aufgebot. Der Reiterdienst ließ ihre mentale Nähe zum Rittertum deutlich werden. Die standesstolzen Kaufleute orientierten sich durchaus an ritterlichem Ehrbegriff und adliger Lebensführung. Die Oberschichtmitglieder waren für ihre Zeitgenossen leicht zu erkennen: an den ihnen zustehenden Ehrbezeugungen durch ihre Mitbürger, an Reichtum ausdrückenden Statussymbolen wie Zobel- und Marderpelzen, Samt und Seide sowie Gold- und Silberschmuck, an dem Aufwand bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen, an der ihnen vorbehaltenen Zulassung zu Tanz- und Festveranstaltungen (etwa dem „Tanz auf dem Rathaus“) oder zu exklusiven Trinkstuben, an der Haltung von Kriegspferden und – vielleicht am sichtbarsten – an der Wohngegend innerhalb der Stadt und ihrem repräsentativen Steinhaus.
Im Laufe des Spätmittelalters, hauptsächlich aber im 13. und 14. Jahrhundert, sonderte sich innerhalb der Oberschicht eine Gruppe ab, die in der modernen Forschung mit einem Quellenbegriff der frühen Neuzeit als ‚Patriziat‘ bezeichnet wird. Darunter versteht man „einen Kreis politisch auf geburtsständischer Grundlage berechtigter Familien, denen die Ratssitze und Ratsämter zukommen, die das Stadtregiment ausmachen“. Die Angehörigen dieser Geschlechter betrachteten sich als die geborenen Herren ihrer Stadt. Sie schlossen sich von anderen Familien geradezu hermetisch ab. Zu den Charakteristika der Patrizier zählte, daß sie ihre herausgehobene Stellung auf Geburt und Herkommen sowie Alter und Vornehmheit ihrer Familie gründeten und einen Ehrenvorrang innerhalb der Führungsschicht beanspruchten. Sie betonten ihre gesellschaftliche Exklusivität durch eine ihrer Meinung nach standesgemäße (und das heißt auch: adelsgleiche) Lebensführung und stellten sie durch entsprechende Statussymbole zur Schau. Bei der Beschreibung des Patriziats tritt neben die ‚Schicht‘ somit unversehens als weitere Sozialkategorie der ‚Stand‘. Im Kontext der Beschäftigung mit der Stadtgesellschaft werden unter Ständen Gruppen verstanden, deren Merkmal die Einschätzung ihrer besonderen „Ehre“ ist. Sie wurde aus dem Bemühen um eine Lebensgestaltung nach einem ideal(isiert)en Konzept (beispielsweise demjenigen des Rittertums) abgeleitet. „Die ‚Ehre‘ findet ihren maßgeblichen inhaltlichen Niederschlag in einer spezifischen, durch Konventionen geprägten, auf Exklusivität und Distanz beruhenden Lebensführung, mit der eine Beschränkung des gesellschaftlichen Verkehrs und eine Beschränkung des Konnubiums […] verbunden ist. […] Die besonders privilegierten Stände neigen zur monopolistischen Aneignung politischer Macht […]. Von daher ergibt sich ein politisch-sozialer und verfassungsgeschichtlicher Ständebegriff“.
Diese Vorbemerkungen mögen genügen, um in das Thema der folgenden Untersuchung einzuführen. Sie ist einer lokalen Oberschicht gewidmet. Die mächtigen Männer Pforzheims sollen hier nun unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden: erstens ihre Bedeutung für den kommunalen und regionalen Handel, zweitens ihre politische Macht innerhalb der Bürgergemeinde und drittens ihre Leistungen für die Kirche.
Beginnen wir mit dem ersten Kapitel:
Oberschicht und Kommerz
Die Bildung einer Oberschicht wird in den Pforzheimer Quellen von der Mitte des 13. Jahrhunderts an erkennbar. Damals handelte es sich dabei offenbar noch keineswegs um einen bereits geschlossenen Personenkreis; denn manche (Familien-) Namen begegnen gelegentlich, aber nicht regelmäßig. Erst mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts läßt sich eine vergleichsweise homogene Oberschicht feststellen. Zu ihr zählten in erster Linie Angehörige der (teilweise schon genannten) Geschlechter Weis und Liebener, von Durlach und von Vaihingen, Steimar und Imhof, Flad und Göldlin, ferner Rot und Schultheiß, Laegelin, Mey, Sehzhelm und Volkmar. Sie alle waren mehr oder weniger wohlhabend. Reichtum konnten Stadtbewohner in der Regel nur durch eine erfolgreiche Beteiligung am Groß- oder Fernhandel und an Kreditgeschäften erwerben. Solche Kaufleute wickelten ihre Geschäfte im späten Mittelalter zunehmend unter Nutzung schriftlicher Hilfsmittel von ihrer Heimatstadt aus ab, ohne – wie in den Jahrhunderten zuvor – noch selbst auf ausgedehnte Reisen zu gehen. Bedeutende Handelsgüter waren damals beispielsweise Luxuswaren wie Gewürze, Edelsteine, hochwertige Tuche oder Metallwaren, sodann die Massenverbrauchsgüter Wein oder Salz.
Über die Geschäfte, die den Wohlstand der Pforzheimer Oberschichtangehörigen begründeten, geben die Quellen allerdings höchst selten Auskunft. Nur ein einziges Mal werden ein Handelsherr und seine Ware genannt: nämlich der während der achtziger oder neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts in Pforzheim als Richter tätige Albrecht Schultheiß, der in großem Umfang Holz verkaufte. Darüber hinaus läßt sich der Tuchmacherordnung von 1486 entnehmen, „daß es auch eine gewisse Produktion für Fernhandelsmärkte gab, unter denen Augsburg zu nennen ist“. So weiß man immerhin, daß Pforzheimer Bürger durchaus weitreichende wirtschaftliche Beziehungen pflegten. Das galt besonders für die im Südwesten des Reiches bekannten Angehörigen der Familie Göldlin, die Geschäfte mit den Städten Speyer, dem „bevorzugten Geldplatz jener Zeit“, Esslingen und Zürich machte. Daneben verfügten auch Heinrich Rot und Heinrich Flad im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts über Verbindungen nach Speyer. Vergleichsweise gut wahrnehmbar ist Pforzheims Bedeutung auf dem südwestdeutschen Kapitalmarkt: 1384 flossen beispielsweise 220 Gulden an Kreditzinsen von Esslingen nach Pforzheim. Wiederum waren es Mitglieder der Familie Göldlin, die sich in den siebziger und frühen achtziger Jahren jenes Jahrhunderts gerade in dieser Hinsicht hervortaten.
Die Oberschichtfamilien erwirtschafteten Gewinne aber nicht allein durch Handels- und Kreditgeschäfte. Sie kauften und verkauften darüber hinaus auch Grund und Boden, ganze Dörfer und Einkünfte. So übertrugen Gotebold Weis und seine Gattin Adelheid beispielsweise im Jahr 1302 dem Kloster Herrenalb Teile ihrer Einkünfte in den Dörfern Brötzingen, Birkenfeld, Ellmendingen, Neidlingen und Göbrichen für 300 Pfund Heller. Alle periodisch zahlbaren Naturalmengen oder Geldbeträge, die auf Immobilien ruhten, bezeichnete man als Renten; ein Rechtsgeschäft wie das hier erwähnte war demnach ein Rentenkauf. Der Rentenkäufer, oder mit anderen Worten: der Kapitalgeber, war in diesem Fall des Kloster. Da das Ehepaar Weis nicht alle seine Einkünfte in den genannten Ortschaften abstieß, verfügte es dort auch weiterhin über sogenannte Grundrenten. Aber nicht nur außerhalb Pforzheims, sondern auch innerhalb der Stadt verfügten die Reichen über Einkünfte, Güter und Häuser, wobei Grund- und Hausbesitz ursprünglich übrigens allein das Bürgerrecht begründeten. So besaß beispielsweise Erlewin Liebener Hof und Güter in der „Alten Stadt“ Pforzheim, die er 1257 dem Pforzheimer Dominikanerinnenkloster vermachte. Es verwundert daher nicht, daß die Familien der Oberschicht, die über einen Großteil ihres Besitzes innerhalb der Stadt verfügten, reges Interesse und großen Anteil am Geschehen der Kommune hatten.
Wir kommen somit zum zweiten Kapitel:
Oberschicht und Kommune
Zu den Leistungen der Oberschichtmitglieder für ihre Stadt zählte zunächst die Erfüllung derselben Pflichten, die jedem ihrer Bürger oblagen, nämlich die Wahrung des Friedens innerhalb der Stadt und die Beachtung ihres Rechts, die Zahlung von Steuern, die Abwehr von Gefahren (beispielsweise von Feuer) und von äußeren wie inneren Feinden (unter anderem durch die Beschaffung geeigneter und dem Vermögen angemessener Bewaffnung) und schließlich die (wenn auch nicht persönliche) Leistung von Arbeitsdiensten etwa an den Befestigungen oder Wasserläufen der Stadt. Damit hatte es freilich noch keineswegs sein Bewenden. Denn es war ja gerade ein Merkmal der Oberschicht, daß sie die Geschicke der Bürgergemeinde in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht maßgeblich bestimmte. Hier beginnen nun für den Historiker die Schwierigkeiten. Die Entstehung einer Stadt, die Herausbildung der Bürgergemeinde sowie die Entwicklung der kommunalen Ämter und Institutionen sind Vorgänge, die bei vielen Städten im dunkeln liegen und oft mühsam rekonstruiert werden müssen. Das gilt aber ganz besonders für Pforzheim, dessen mittelalterliche Archivalien durch ihr ungünstiges Überlieferungsschicksal stark dezimiert wurden. Und da jede Stadt als historisches Individuum zu betrachten ist, lassen sich parallele Entwicklungen in anderen Orten nie ohne weiteres übertragen. So wird man sich im Falle Pforzheims mit wenigen Indizien zur städtischen Verfassungsgeschichte begnügen müssen.
Die Entwicklung, um die es hier geht, ist diejenige der sogenannten „Neuen Stadt“ Pforzheim, deren planmäßige Anlage aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf Veranlassung eines der staufischen Stadtherrn jener Epoche begonnen wurde. Damit liegt Pforzheim durchaus im zeitlichen Rahmen dessen, was im römischen Reich nördlich der Alpen üblich war, galten dort doch das 12. und das frühe 13. Jahrhundert als Blütephase der Stadtentstehung. Von einer Stadtrechtsverleihung hört man freilich nichts. Um das Jahr 1200 werden in einer Urkunde des Pfalzgrafen Heinrich bei Rhein (übrigens eines Sohnes von Heinrich dem Löwen), erstmals Pforzheimer Bürger (lateinisch: cives) genannt. Bürger lebten unter einem eigenen, für sie alle gleichermaßen geltenden Recht, dem Stadtrecht, das allein innerhalb der Stadtmauern galt und die städtische Siedlung von ihrer agrarisch geprägten und unter Landrecht stehenden Umgebung unterschied. Allerdings waren nicht alle Bewohner einer Stadt zugleich auch deren Bürger: Fremden, Juden oder den Angehörigen der städtischen Unterschichten etwa blieb das Bürgerrecht in der Regel versagt.
Eine Anzahl von Bürgern machte allein freilich noch keine Bürgergemeinde (oder mit dem entsprechenden lateinischen Lehnwort gesagt: eine Kommune). Denn unter einer Gemeinde versteht man einen personalen Verband, der, auf ein Gebiet bezogen, Befugnisse zur Selbstregelung besitzt. Oder anders formuliert: Die Stadtgemeinde war „der Zusammenschluß der Bürger zu einer gemeinsam handelnden Korporation, die zum Stadtherrn in ein Vertragsverhältnis tritt und einen wachsenden Teil von dessen Rechten selbst übernimmt“. In der deutschen Stadtgeschichte waren solche Bürgergemeinden üblicherweise (Eid-)Genossenschaften, also Gruppen, die sich durch die rechtliche Parität ihrer Mitglieder auszeichneten und durch Eidesleistung konstituierten. Die Pforzheimer Quellen bieten nur sehr wenige Belege für die Existenz einer Bürgergemeinde. Zwei Indizien gibt es dennoch. Erstens: Im Jahr 1256 beurkundeten ein gewisser Erlewin, genannt Rummelin, Schultheiß in Pforzheim, und die Bürgerschaft daselbst ein Rechtsgeschäft des Klosters Herrenalb. Der Inhalt des Rechtsgeschäfts braucht hier nicht zu interessieren. Wichtig ist vielmehr, daß die Pforzheimer Bürgerschaft als Urkundenaussteller fungierte, damit als rechtsfähig galt und öffentlichen Glauben beanspruchte. Darüber hinaus verfügte sie offenbar über einen (bürgerschaftlichen) Schultheißen an ihrer Spitze. Zweitens: In dem eingangs genannten Stück von 1258 werden die elf Mitglieder der Oberschicht, die neben dem Schultheißen als Aussteller der Urkunde begegnen, als iurati et consules bezeichnet. Das Wort iurati meinte ursprünglich alle diejenigen, die einen Treueid geschworen hatten, die Eidgenossen. So läßt sich vermuten, daß die Bürger Pforzheims zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 1258 eine Schwureinung und damit wohl auch eine Gemeinde gebildet haben.
Die Wortverbindung iurati et consules erlaubt freilich noch weitergehende Schlüsse. Faßt man das ‚et/und‘ an der genannten Stelle der Urkunde verbindend (und nicht trennend) auf, ist von nur einer Personengruppe die Rede, deren Eigenschaften beide Substantive gleichermaßen beschreiben. Die iurati waren zugleich also auch consules. Darunter versteht man im Kontext der hoch- und spätmittelalterlichen Stadtgeschichte Deutschlands die „Ratsherren“. Die iurati der Urkunde von 1258 waren demnach nicht etwa alle Eidgenossen Pforzheims, sondern eine aus ihrem Kreis bestellte Führungsriege, deren Mitglieder in der jüngeren Literatur üblicherweise (und leider mißverständlich) als „Geschworene“ bezeichnet werden. Sie waren die Träger des bürgerschaftlichen Strebens nach Selbstverwaltung. Das Gremium der iurati et consules ist somit als eine frühe Form des städtischen Rates aufzufassen, wie er sich im oberdeutschen Raum um die Mitte des 13. Jahrhunderts vielerorts ausbildete. Da der Rat in Pforzheim wie anderswo im Laufe des späten Mittelalters seine Gestalt noch erheblich veränderte, soll diese frühe Form hier, der Terminologie der Quellen folgend, „Geschworenen-Rat“ genannt werden. Das ist zu betonen. Denn bisher galt als Erstbeleg für einen Pforzheimer Rat eine Urkunde des Jahres 1381, und das Gremium „das die Funktionen eines Gemeinderates“ ausübte, wurde undeutlich (und in relativierenden Anführungszeichen) als „‚städtisches Gericht’“ bezeichnet.
Über die Aufgaben des „Geschworenen-Rates“ im 13. und 14. Jahrhundert bieten die Quellen nur selten Auskunft. Wie die Urkunde von 1258 zeigt, hatte er dafür Sorge zu tragen, daß die stadtherrlichen Befehle in Pforzheim ausgeführt wurden. Was zunächst noch als pflichtschuldiger Gehorsam der leitenden Bürger anmutet, bekam allmählich den Charakter einer geradezu rechtserheblichen Zustimmung: Die Anordnungen des Stadtherrn bedurften offenbar bereits 1295 der Einwilligung des allmählich selbstbewußter werdenden Geschworenen-Rates. Er war jedoch nicht allein für die Zusammenarbeit der Stadt mit ihrem Herrn zuständig, sondern wirkte auch ordnend nach innen, etwa indem es durch die Beurkundung von Geschäften Rechtssicherheit schuf. Eine weitere Aufgabe des Gremiums war allem Anschein nach die Rechtssprechung (wohl im Bereich der niederen Gerichtsbarkeit). Die Vermutung, daß das Gericht zu Pforzheim in seiner personellen Zusammensetzung mit dem Geschworenen-Rat übereinstimmte, legt eine Urkunde des Gerichts vom 1. September 1300 nahe, in deren Zeugenliste – von zwei Ausnahmen abgesehen – dieselben Personen erscheinen, die schon 1295 als Geschworene begegneten. Die Gerichtsfunktion war demnach wohl eine zentrale Funktion des Pforzheimer Geschworenen-Rates, auch wenn sie nicht seine einzige blieb. So mag es zu erklären sein, daß für seine Mitglieder die Bezeichnung „Geschworene“ im 14. Jahrhundert derjenigen des „Richters“ wich. Als Richter amtierten allein die ratsfähigen Angehörigen der Oberschicht. Schließlich wählte der Geschworenen-Rat wohl auch – wiederum nur aus der Oberschicht – den bürgerschaftlichen Schultheißen.
Mehr erfährt man aus den Pforzheimer Quellen über die Aufgaben des Rates nicht. Es ist jedoch anzunehmen, daß der Geschworenen-Rat noch weitere Pflichten übernahm, wie man sie aus anderen deutschen Städten kennt. So dürfte er für alle Belange der Stadtverwaltung (vornehmlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne des älteren Verständnisses von „Policey“), der Satzungsgebung, der Wehr- und Steuerhoheit, der Aufsicht über Markt, Gewerbe und Münze sowie der Vertretung der Stadt nach außen zuständig gewesen sein. Angesichts der Fülle der dem Rat zuwachsenden Aufgaben wundert es nicht, daß er seine Struktur veränderte. Von einem Ausschuß der Bürgergemeinde, dem angesehene Mitglieder der Oberschicht gleichsam nebenberuflich Kraft und Zeit widmeten, wurde er zu einem kontinuierlich wirkenden und sogar nach Ressorts gegliederten, städtischen Verfassungsinstitut, das allmählich den bisherigen Stadtherren aus seiner Führungsposition verdrängte.
Der Wandel ging noch weiter. Waren bis in das 14. Jahrhundert hinein ausschließlich Oberschichtangehörige als consules et iurati beziehungsweise Richter sowie als Schultheißen tätig, drängten nunmehr auch distinguierte Angehörige weniger exklusiver Schichten als Vertreter der sogenannten [All-] „Gemeinheit“ an die Macht. Über diesen Vorgang weiß man wenig. Sicher ist immerhin, daß von 1381 an Gericht und Rat institutionell wie personell voneinander getrennt waren. Die bisher bekannten Angehörigen der Oberschicht amtierten fortan nur noch als Richter; den Rat stellten hingegen andere Familien. Ihre Namen sind sprechend: Neben einem Ulrich Becker trifft man auf einen Gerung Kremer oder einen Heinz Pfenner. Gewiß: Die Namen der Männer müssen nicht notwendigerweise auf ihre Berufe schließen lassen. Aber daß keine Patrizier mehr im Rat saßen, ist offensichtlich. Vielmehr dürften es Händler oder Handwerker gewesen sein: „Alle Angehörigen des Rates aber gehören 1384/85 eindeutig nicht zur Oberschicht […]“. Offenbar gewannen in Pforzheim – wie anderswo – die Zünfte an Macht: „Es hat den Anschein, als sei auch in Pforzheim die Stellung des „Patriziates“ durch Zunftunruhen nachhaltig erschüttert worden […]“. Aus dem patrizischen „Geschworenen-Rat“ wurde, so könnte man die Entwicklung pointiert zusammenfassen, der nicht-patrizische „Zünfte-Rat“. Diese Entwicklung ist durchaus zeittypisch: Auch in anderen Städten des Reiches kam es im 14. Jahrhundert zur Auseinandersetzung zwischen der Allgemeinheit und den wohlhabendsten Bürgern der stadt, zur twidracht twischen der meinheit und den rikesten, wie es in einer mittelniederdeutschen Quelle jener Zeit, der Magdeburger Schöppenchronik, hieß. Die meinheit, in der Regel angeführt von den Zunftmeistern, verlangten ihre Beteiligung am jeweiligen Stadtregiment. Solche internen „Stadtkonflikte“ (Wilfried Ehbrecht) wurden in der Literatur als „Zunft- oder Bürgerkämpfe“ bezeichnet.
Mit der Trennung von Gericht und Rat wird der Einfluß der Oberschicht auf Pforzheim für den späteren Betrachter undeutlicher. Das bedeutet freilich nicht, daß das Patriziat seine führende Stellung aufgeben mußte. Es wird sich mit der neuen Situation gewiß arrangiert haben. Und: Die rikesten besaßen nicht nur politische Macht. Sie verfügten auch über beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluß auf Handel und Gewerbe in der Stadt. Selbst wenn den Quellen darüber nichts zu entnehmen ist, kann man doch vermuten, daß sie es verstanden, durch ihren Boden- und Kapitalbesitz die Pächter und Kreditnehmer in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Mitglieder der städtischen Oberschicht ließen ihre Zeitgenossen ja auch keineswegs im unklaren darüber, daß sie über Macht und Reichtum verfügten: Ritterliches Verhalten, prächtige Kleidung, die Zugehörigkeit zu exklusiven Gesellschaften, Stifterbilder und Grabsteine machten unmißverständlich deutlich, welcher Schicht man angehörte. Entsprechende Grabplatten und –inschriften haben sich auch in Pforzheim erhalten, etwa solche des Eberhard Liebener (gest. 1275), des Gunther Flad (gest. 1406) oder des Johannes Rot (gest. 1420). Demonstratives Handeln und das Streben nach repräsentativer Statusdarstellung bestimmten demnach nicht nur politische Inszenierungen wie etwa die jährlich stattfindende Einsetzung des Rates oder die Gestaltung von Alltag und privaten Festlichkeiten (beispielsweise bei Taufe oder Hochzeit), sondern beeinflußten auch das Verhältnis der Oberschichtangehörigen zur Kirche.
Somit erreichen wir das letzte Kapitel meiner Ausführungen:
Oberschicht und Kirche
„Die“ Kirche war für den Menschen des Mittelalters nicht etwa eine anonyme Institution zur Heilsvermittlung, sondern – ganz konkret – die Pfarrkirche, zu deren Gemeinde er zählte und die durch Glockengeläut, Gottesdienste und Feste seine Tage, Wochen und das ganze Kirchenjahr bestimmte. In Pforzheim gab es mit St. Martin in der „Alten Stadt“ zunächst nur eine einzige Pfarrei. St. Michael, ursprünglich die Kirche der stadtherrlichen Burg auf der heute Schloßberg genannten Anhöhe, wurde erst im 13. beziehungsweise frühen 14. Jahrhundert zu einem Gotteshaus vom Typus einer Stadtpfarrkirche gestaltet. Noch um 1350 wurde sie als Tochterkirche von St. Martin betrachtet; zu einer formalen Gleichstellung kam es wohl nicht vor dem Beginn des 15. Jahrhunderts. Seitdem war die Michaelskirche aller Wahrscheinlichkeit nach die Pfarre der „Neuen Stadt“. Eine Stadtpfarrkirche war im späten Mittelalter der öffentliche Ort einer Stadt schlechthin: Dort begannen wichtige Ratssitzungen (ob das auch in Pforzheim so war, muß freilich mangels entsprechender Quellenaussagen dahingestellt bleiben; denkbar ist es jedenfalls); dort könnte der Rat seine Archivalien untergebracht haben; dort hatten die städtischen (Gebets-)Bruderschaften ihren Mittelpunkt. dort war schließlich auch der Platz, wo diejenigen, die in der Stadt Rang und Namen hatten, ihren Status und ihr Vermögen zur Schau stellen konnten.
Das geschah am offensichtlichsten durch die Lage eines Grabes innerhalb des Gotteshauses. Am begehrtesten waren die Plätze beim Hauptaltar, in dem die Reliquien der Kirchenpatrone ruhten, sodann im Chorraum oder wenigstens im Kirchenschiff. Denn von den Heiligen versprach man sich Hilfe und Beistand am Tag der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts. Die Grabsteine und ihre Inschriften schufen weitere Gestaltungsmöglichkeiten. An die Stelle der zunächst einfach gehaltenen Wappensteine traten im 15. Jahrhundert Hochreliefs. Bisweilen findet man in Kirchen auch (aus tatsächlich verwendeten Kampfschilden hervorgegangene) Totenschilde oder gar Turniersättel, die von adelsgleich lebenden Oberschichtfamilien zum Totengedächtnis genutzt wurden.
Dem Bedürfnis nach repräsentativer Selbstdarstellung dienten im religiösen Bereich darüber hinaus noch alle Arten von Stiftungen, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um Meß- beziehungsweise Altar-, gelegentlich aber sogar auch um Kapellen- oder gar Hospitalstiftungen handeln konnte. Unter einer Stiftung versteht man (nach den Begriffen des modernen Privatrechts ebenso wie nach mittelalterlichen Rechtsvorstellungen) jede Widmung von Vermögen zu einem bestimmten Zweck. Die hier aufgezählten Stiftungen sind freilich allesamt zweckgebundene Sonderformen, nämlich sogenannte Seelgeräte. Das waren „alle testamentarischen Verfügungen und Stiftungen, die ‚ad pias causas’ und damit zum Heil der Seele dotiert wurden“. Wie Ablässe dienten sie dazu, die angehäufte Sündenlast und die dafür drohenden Strafen zu mindern. Die Angst um das Seelenheil und das ewige Leben waren ganz alltägliche Sorgen. Gebete und fromme Taten sollten hier Abhilfe schaffen. Deshalb versuchte man, sich einer möglichst großen Zahl von Betern und Gebeten zu versichern. Eine Möglichkeit dazu boten eben die Seelgeräte, denn sie beinhalteten für den Empfänger stets eine Gebetsverpflichtung. Gebetet wurde für die Lebenden wie für die Toten. Die Stiftungen an geistliche Instituten galten deshalb zumeist den Jahrzeit- oder den mehrmals im Jahr zu feiernden Seelenmessen für den Stifter und/oder seinen Angehörigen.
Fromme Stiftungen durch Oberschichtangehörige lassen sich für das späte Mittelalter auch in Pforzheim mehrfach nachweisen. Die frühesten Belege dafür stammen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts: Am 16. Oktober 1350 stifteten Heinz Schultheiß und seine Gattin Liucke am St. Thomas- und Andreasaltar der Michaelskirche eine Frühmesse zum Seelenheil von Heinzens Schwiegereltern Werner I. Göldlin und dessen Ehefrau Judel. Dafür wurden von den Stiftern jährliche Einkünfte von 7 Gulden, 17 Pfund und 3 Schilling Heller sowie 12 Hühner ausgesetzt. Überdies forderten Heinz Schultheiß und Liucke für sich und ihre Erben das sogenannte Präsentationsrecht; das heißt, sie beanspruchten das Recht, dem zur Übertragung eines kirchlichen Amtes berechtigten Oberen einen geeigneten Bewerber für die frei gewordene Pfründe verbindlich vorschlagen zu dürfen. Durch diese Stiftung wurde also eine Meß- oder Altarpfründe geschaffen: Dabei handelte es sich um eine aus einem besonderen Stiftungskapital vornehmlich an Kapellen oder Altären eingerichtete Pfründe für einen Geistlichen, der die mit der Stiftung verbundenen Aufgaben (wie hier das regelmäßige Lesen von Messen) zu erfüllen hatte. Weitere Stiftungen für St. Michael stammten von der Familie Flad (1351), von Werner II. Göldlin (1381), dessen Sohn Heinrich (1384), der Familie Gößlin (1389) und vielen anderen mehr. Angesichts dieses Stiftungsverhaltens verwundert es nicht, daß man im späten 15. Jahrhundert in großen Stadtkirchen oftmals sehr viele Altäre vorfinden konnte. In der Pforzheimer Michaelskirche gab es am Ende des Mittelalters insgesamt 19 dieser liturgischen Tische.
Nicht nur jenseitigen Bedürfnissen trugen die Stiftungen Rechnung, sondern auch irdischen. Das zeigt bereits die älteste, bisher bekannte Einrichtung einer Meß- bzw. Altarpfründe: Am 28. Juni 1345 stiftete der Pforzheimer Schultheiß Sifrit Seshelm zu seinem und seiner Vorfahren Seelenheil eine Messe am Heiligkreuzaltar von St. Michael, indem er zu diesem Zweck die Hälfte aller seiner Einkünfte aus dem (im heutigen Enzkreis gelegenen) Dorf Darmsbach zur Verfügung stellte. Dafür behielt er sich und seinen Erben das Präsentationsrecht auf die Pfründe vor und bestellte als ersten Geistlichen seinen Onkel, den Pfaffen Heinrich. So konnten fromme Stiftungen auch zur Versorgung von Verwandten oder Freunden der dotierenden Oberschichtfamilie, darunter besonders häufig für zweit- und drittgeborene Söhne des Stifters, genutzt werden. Auf diese Weise flossen die Stiftungserträge gewissermaßen an den Fundator zurück und vergrößerten seinen Einfluß auf die Pforzheimer Pfarrkirche. Für das Seelenheil, das Totengedächtnis sowie eine repräsentative Selbstdarstellung an geeigneter Stelle war damit gesorgt.
Versuchen wir am Ende ein kurzes
Resümee
Gerade das Bemühen der städtischen Oberschicht um Memoria und statusstolzes Selbstverständnis sind für den modernen Historiker von entscheidender Bedeutung. Denn ohne die Stiftungen und die darüber ausgestellten Urkunden, ohne die Stifterbilder auf Altarretabeln oder die Reliefs und Inschriften auf Grabsteinen wüßte er erheblich weniger über die Reichen der Stadt. Dasselbe gilt mutatis mutandis übrigens auch für die nicht in Städten lebenden Adelsgeschlechter des Hoch- und Spätmittelalters, über die man Entscheidendes oft nur durch die Memorialüberlieferung, die auf das (Fürsten-)Geschlecht bezogene Geschichtsschreibung (die sogenannte Hausüberlieferung) oder die als repräsentative Grablegen gedachten Hausklöster erfährt. Die armen Menschen des Mittelalters bleiben für den späteren Betrachter hingegen zumeist gesichts- und namenlos. Der Reichtum ermöglichte es den Kaufleuten, für diejenigen Orte, Dinge und Texte zu sorgen, welche die Erinnerung an sie zu bewahren halfen, auch wenn die Oberschichtangehörigen dabei eher ihre Zeitgenossen und Nachfahren einerseits und das ewige Leben andererseits eher im Blick gehabt haben mögen als Jahrhunderte später lebende Geschichtsinteressierte.
Der Reichtum war es auch, der den Patriziern zu Lebzeiten Einfluß in wirtschaftlicher, politischer und kirchlicher Hinsicht verschaffte. Davon handelten die voranstehenden Kapitel. Gleichwohl darf sich die Beschäftigung mit der städtischen Oberschicht nicht in der buchhalterischen Summierung von angesammeltem Vermögen oder einer akribischen Untersuchung von patrizischer Macht erschöpfen. Denn die städtische Führungsschicht war keineswegs allein ein wirtschaftliches oder politisches Phänomen; sie ist darüber hinaus auch eine religiös und kulturell bedeutsame Erscheinung. Insofern erlauben die bisherigen Ausführungen nur Blicke auf einen Teil ihrer Mentalität und Lebenswirklichkeit. Man wüßte gern mehr: beispielsweise über Heiratsverbindungen, soziale Mobilität und Klerikerkarrieren, über Denkweisen, Alltagsleben und Festgestaltung, über Bildung, Religiosität und Mäzenatentum oder einfach über einzelne Menschen, ihre Ängste, Sorgen und Freuden. Aber das sind Kapitel, die, zumindest was Pforzheim angeht, auf einem anderen Blatt stehen werden.
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